Alexander Kluges Marx-Kommentar “Nachrichten aus der ideologischen Antike“ bleibt im Malersaal zwischen Diskurs und Freakshow stecken.

Hamburg. Für die Theatermacher der Republik ist Marx schon lange kein Murx mehr. Auch den jungen Autor und Regisseur Kevin Rittberger schmerzen der Verlust der Utopien und die grassierende Resignation hinsichtlich des Erforschens alternativer gesellschaftlicher Systeme zum strauchelnden Kapitalismus. Zum dritten Mal arbeitet sich Rittberger mit dem Text des Analytikers und Filmemachers Alexander Kluge an Karl Marx ab. Mit der Uraufführung von dessen monumentalem Marxkommentar "Nachrichten aus der ideologischen Antike" (im Original eine 570-Minuten-DVD) beweist er im Malersaal dabei eine weniger glückliche Hand als in seinen früheren "Hunger nach Sinn"-Abenden.

Immerhin aber belohnte das Premierenpublikum wohlwollend, dass hier einer jenseits des Mainstream-Theaters wieder radikales Denken wagt. Auch wenn dem Regietalent Kevin Rittberger der große Wurf, der ihn zwingend auch für die große Schauspielhaus-Bühne empfiehlt, noch nicht gelungen ist.

Um den Wust an dokumentarischen und essayistischen Szenen, Archivbildern und Interviews bühnentauglich einzufangen, schließt Rittberger die theoretischen Assoziationsketten Kluges szenisch mit der Tradition des Pariser Grand-Guignol-Theaters kurz, in dem bis vor 40 Jahren Horrorstücke gespielt wurden. Er begibt sich mit den Mitteln eines Trash-Theaters in den Steinbruch einer versunkenen Ideenwelt. Ein Kunstgriff, der zu durchaus spielfreudigen Szenen führt, aber auch manchen Inhalt zum Klamauk herabwürdigt.

Dramatisch kündigt Ute Hannig als doppelköpfige "Zwillingsfrau" die Programmpunkte dieses Splatterkabinetts an. In einer makabren Operation trennt Lukas Holzhausen als Arzt die Gliedmaßen einer von Marie Leuenberger gespielten jungen "Meerjungfrau", dass das Blut nur so spritzt. Fortan kann sie nur noch ungelenk über die Bühne staksen, bittere Metapher auf das Scheitern des für die Russische Revolution umoperierten "neuen Menschen".

Die Musik, von Stefan Schneider aus einer kleinen Bastelecke apart live zugespielt, schwillt gruselig an. Immer wieder muss sich Felix Kramer als "Mann ohne Kopf" auf die hinabsausende Guillotine legen. Parallel strengt er Gedanken darüber an, wie lange der Marsch des Kapitalismus ins Innere des Menschen sich noch aufhalten lässt. Der Zwiespalt von trashiger Szene und diskursivem Text erzeugt eine nicht immer stimmige Reibung. Für die bunte Freakshow, die die Inszenierung aufbot, hat Kostümbildnerin Janina Brinkmann jedoch ganze Arbeit geleistet.

Die "Zwillingsfrau" etwa entdeckt die "Liebe als Produktivkraft" und beklagt das Abwandern der "Kraft der Gefühle" in die Werbung. Samuel Weiss, als Riesenvogel "Pieps" im Bibokostüm, rezitiert im Vogelkäfig sitzend Voltaires "Kosmos als Kino", in dem der Sternenbewohner Mikromegas auf der Erde landet und mit den Menschen über ihr Menschsein spricht. Fantasievolle Schwarz-Weiß-Videos flimmern dazu über die Leinwand. Ein Fahnen schwingender "Marxist ohne Hoffnung" enthüllt die Notwendigkeit von 112 Generationen, bis der Marxismus in den politischen Prozess eingegangen sein könnte. Diskurs, Horrorshow, dokumentarische Arbeiter- und Revolutionsszenen wechseln sich mit einer gewissen Willkür ab.

Am Ende halluzinieren die Freaks von "Biokosmismus", nennen sich "Immortalisten" und erklimmen eine Treppe, die den Exodus der Menschheit hinüber in ein anderes Planetensystem symbolisieren soll. Der "Biokosmismus" sei zweifellos von großer Kühnheit. "Er demütigt alle Ideen und alle Ideologien. Doch wir sind Optimisten und keine Wahnsinnigen", heißt es an einer Stelle. Ein Modell, wie es der Linksintellektuelle Dietmar Dath jüngst in seiner kontrovers diskutierten Science-Fiction-Anti-Utopie "Die Abschaffung der Arten" propagiert hat. Hier wirkt es wie ein verstiegenes Happy End. Die Gedanken Karl Marx' blitzen als assoziative Episoden auf, die dem Zuschauer einiges an theoretischer Kompetenz abverlangen.

Das Schauspielhaus verdankt Rittberger mit den beiden Teilen seiner Kluge-Reihe "Hunger nach Sinn" einige der originellsten und gedankenschärfsten Theaterabende, die leider - so wie Kluges Interviews im Nachtprogramm der TV-Privatsender verschwinden - nur im Rangfoyer zu sehen waren.

Der Hunger nach Sinn, an diesem Abend im Malersaal bleibt er ungestillt.

Nachrichten aus der ideologischen Antike: Nächste Vorstellungen am 2. und 3.2., jew. 20 Uhr, Malersaal im Schauspielhaus, Karten: T. 24 87 13.