Warum müssen Mordgeschichten immer erfunden sein? Die Archive sind voll von spannenden Fällen. Der Autor Uwe Ruprecht hat in Norddeutschland Verbrechen aus den vergangenen 150 Jahren nachgespürt und sie in einem Buch protokolliert. Irene Jung über das wahre Verbrechen als Literatur, das - wie der Bestseller “Tannöd“ zeigt - immer mehr Leser fesselt.

Martha Blanck, Dienstmädchen in Hamburg, suchte im März 1903 verzweifelt eine Pflegestelle für ihre neugeborene Tochter. Eine ledige Mutter mit Kind hätte niemand eingestellt. Durch eine Zeitungsannonce stieß sie auf Elisabeth Wiese in der Wilhelminenstraße auf St. Pauli (heute Hein-Hoyer-Straße): Die nahm Kleinkinder für monatlich 20 bis 30 Mark bei sich auf, für die Vermittlung an Pflegeeltern forderte sie 100 bis 300 Mark.

Zwischen Januar und April 1903 vertrauten insgesamt vier Dienstbotinnen ihre Säuglinge Elisabeth Wiese an, aber kurz darauf waren all diese Kinder spurlos verschwunden. Den Müttern tischte Frau Wiese auf, sie seien bei reichen Leuten in London, in Wien, in Amerika oder bei ihrer Cousine in Göttingen. Eine Amme, die die kleine Bertha Blanck einen Monat lang gestillt hatte, wurde jedoch misstrauisch und ging zur Polizei.

In den Vernehmungen waren es vor allem ihre ungeschickten Lügen, die Elisabeth Wiese vor Gericht brachten. Kinderleichen wurden nicht gefunden. Deshalb stützte die Staatsanwaltschaft ihre Anklage nach monatelangen Ermittlungen auf Zeugenaussagen und Indizien: dass Elisabeth Wiese die Babys mit Morphium getötet und dann in ihrem Ofen verbrannt hatte. Und dass sie im Juli 1902 sogar das Neugeborene ihrer eigenen Tochter ertränkt hatte.

War ein Kinderleben der ehemaligen Hebamme und Engelmacherin nichts wert? "Ob Gier nach Geld ihr einziges Motiv war oder die Kinder noch anderen Zwecken dienten, wurde nie ermittelt", stellt Uwe Ruprecht fest, der diesen und andere historische Kriminalfälle jetzt neu gesichtet und in seinem Buch "Elses Lachen" aufbereitet hat. Der Journalist und Gerichtsreporter wälzte Originalakten in Stade und Hamburg, suchte noch lebende Zeugen und forschte nach alten Hinrichtungsstätten. Nach dem Motto: Warum den unzähligen fiktiven Krimis in Literatur und Film noch weitere hinzufügen, wenn die Wirklichkeit selber so viel Spannendes zu erzählen hat.

In Harsefeld vergiftete die Bäuerin Anna Marlena Princk ihren Mann mit Arsen. Sie war die Letzte, die 1842 auf dem Hinrichtungsplatz mit dem Schwert geköpft wurde. 1926 narrte der "Wunderheiler" Ernst Julius Buchholz in Hamburg-St. Georg Hunderte Bürger mit der Behauptung, er könne ihre Krankheiten am Nackenhaar erkennen.

"Ich war selber ganz erstaunt, wie vieles noch völlig unbearbeitet ist", sagt Uwe Ruprecht. Bei seinen Nachforschungen stieß er im Alten Land nicht nur auf Ermunterung: "Manche wollten lieber gar nichts davon hören, dass es am Ort in der guten alten Zeit Kriminalität gab oder wo die Hinrichtungen stattfanden."

Die Öffentlichkeit dagegen will offenbar noch viel mehr hören. Man könnte es das "Tannöd"-Syndrom nennen: Der ungeklärte Mord an einer Bauernfamilie auf einem bayerischen Einödhof im Jahe 1922 inspirierte nicht nur die Regensburgerin Andrea Maria Schenkel zu ihrem inzwischen mehr als eine Million Mal verkauften Debütroman, sondern fesselt inzwischen auch das Kinopublikum. Der Autor und Profiler Stefan Harbort findet mit seinen wahren Fallgeschichten eine seit Jahren wachsende Fangemeinde. Gleich mehrere Autoren arbeiteten authentische Fälle der früheren DDR-Volkspolizei auf.

Historische Kriminalfälle faszinieren aus mehreren Gründen: Sie beschreiben eine Welt vor unserer Zeit. Aber wir können mitverfolgen - wie James Stewart in Hitchcocks Film "Das Fenster zum Hof" -, wie sich Details zu einem Ganzen fügen. Und wir erkennen die immer wiederkehrenden Motive, die heute nur eine andere Kostümierung tragen: Neid, Eifersucht, Angst vor Entdeckung. Autoren wie Uwe Ruprecht folgen dabei einer alten Tradition, die auf den Pariser Advokaten François Gayot de Pitaval zurückgeht: Er hatte 1734 erstmals eine Sammlung bekannter und bemerkenswerter Kriminalfälle ("causes célèbres et interessantes") für das breite Publikum veröffentlicht.

In einer Zeit, in der die Justiz nicht öffentlich arbeitete, machte Pitavals Vorbild bei den Aufklärern schnell Schule. Friedrich Schiller gab 1792 eine Auswahl des "Pitaval" auf Deutsch heraus ("Merkwürdige Rechtsfälle als ein Beitrag zur Geschichte der Menschheit"). Auch der Richter und Strafrechtler Paul Anselm von Feuerbach verfasste 1828/29 eine Fallsammlung.

Beide grenzten sich klar gegen die Sensationslust und die schaurigen Jahrmarkts-Moritaten ab. "Das bloß Abscheuliche hat nichts Unterrichtendes", schrieb Schiller. Vielmehr wollte er Verständnis wecken für die "unveränderliche Struktur der menschlichen Seele" und die "veränderlichen Bedingungen, welche sie von außen bestimmen".

Zwischen 1842 und 1890 brachte der Leipziger Brockhaus-Verlag sogar einen 60-bändigen "Neuen Pitaval" heraus. Unter den rund 600 "interessanten Criminalfällen" liest sich einer heute noch wie ein Krimi: Auf einer Landstraße bei Dresden wurden um die Jahreswende 1819/1820 der bekannte Maler Gerhard von Kügelgen und ein Tischlergeselle namens Winter erschlagen. In der für ihre Zeit erstaunlich akribischen Morduntersuchung ist bereits von "Psychologie" die Rede. Denn der letztlich als Täter verurteilte Johann Gottfried Kaltofen erschien als verdienter Soldat, wohlerzogen und gewandt, und zeigte im Verhör erst allmählich sein anderes Gesicht, eine "kalte, entschlossene Bosheit". Er hatte aus reiner Habgier getötet. Im Juni 1821 enthauptete man Kaltofen mit dem Schwert.

Immerhin wurde ein Geständnis in Sachsen seit 1770 nicht mehr unter der Folter erzwungen. Pitavale erzählen auch etwas über die Entwicklung polizeilicher Methoden und Strafverfahren. Anders als in Frankreich oder England glich das Recht in den deutschen Kleinstaaten einem Flickenteppich. In Stade etwa galt das hannoversche Recht, in der Hansestadt Hamburg wurden Verbrechen nach dem Stadtrecht von 1603 geahndet; in schwierigen Fällen nutzte man auch das "gemeine Strafrecht" der "Peinlichen Halsgerichtsordnung" Karls V. aus dem Jahr 1532 ("Carolina").

Dabei war der Richter gleichzeitig Ankläger wie in einem Inquisitionsprozess, ging also von einer Schuld aus. Die "Carolina" legte fest, auf welche Weise zur Herbeiführung eines Geständnisses gefoltert werden durfte. Auf diese "peinlichen" Befragungen verzichtete Hamburg erst 1806.

"Aber mit einer großen Rechtsreform tat sich die Stadt schwer", sagt der Hamburger Rechtshistoriker Prof. Götz Landwehr. "Wenn ein Angeklagter nicht geständig war und nicht gefoltert werden durfte, wie war er dann zu überführen?" Reichten zwei unbescholtene Zeugen? Welche Indizienbeweise sollten zugelassen werden? Welche Rechte sollte der Verteidiger erhalten? Unzählige Strafrechtler und Advokaten stritten in Kommissionen über solche Fragen, bis 1869 kurz vor der Reichsgründung auch in Hamburg eine reformierte Strafprozessordnung und ein neues Strafgesetz in Kraft traten - es war die Geburtsstunde der Hamburger Staatsanwaltschaft.

Im Hamburger Staatsarchiv lagern umfangreiche Akten aus dem 18. und 19. Jahrhundert: Gerichtsprotokolle, Verhörabschriften, Obduktionsberichte. Solche handschriftlichen Akten durchzusehen ist mühsam, weshalb viele Kriminalfallsammler "voneinander abschreiben", sagt Uwe Ruprecht. Und selbst eine Sammlung aus der Hand eines Kriminalbeamten kann tendenziös sein und Fehler enthalten. Wie Helmut Ebelings "Schwarze Chronik einer Weltstadt" aus dem Jahr 1968 mit Fällen von 1919 bis 1945.

So kolportierte Ebeling, im Hamburger "Chinaviertel" in der Schmuckstraße auf St. Pauli habe es seit den 20er-Jahren ein "Labyrinth" zwischen Kellerwohnungen und Opiumhöhlen gegeben. Für ein Tunnel-Labyrinth fand sich trotz aller Razzien nie ein Beweis. 1940 wurde die kleine chinesische Kolonie unter den Nazis gewaltsam aufgelöst, die letzten 130 Chinesen verschleppte man zur Zwangsarbeit ins "Arbeitserziehungslager Wilhelmsburg". Das wäre eine Pitavalgeschichte - aber die hat Ebeling nicht geschrieben.

Nicht jeder Pitaval gründelt so tief wie Truman Capotes Welterfolg "Kaltblütig" von 1965 über die Ermordung einer vierköpfigen Farmerfamilie in Kansas durch zwei gerade entlassene Häftlinge. Die exakt recherchierte Geschichte liest sich wie das Psychogramm zweier Lebens- und Wertewelten, die im selben Land parallel existierten und erst durch die Tat aufeinandertrafen.

Der Düsseldorfer Autor und Kriminalhauptkommissar Stefan Harbort versucht, Verbrechen nicht nur zu schildern, sondern auch einzuordnen. Er fragt etwa, worauf die anhaltende Faszination für Serienmörder beruht. Und gibt es Taten, die typisch für ihre Zeit sind?

Ruth Blaue in Elmshorn wurde 1955 wegen Mordes an ihrem Mann zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Sie hatte sich wie Millionen andere Frauen im Krieg allein durchgeschlagen, eine Bücherstube eröffnet und sich 1945 in den jungen Flieger Horst Buchholz verliebt. Als ihr Ehemann John, ein Spediteur, 1946 aus der Kriegsgefangenschaft heimkehrte, begann ein Drama mit furchtbarem Ausgang: John Blaues Leiche wurde 1947 in einem Badesee entdeckt.

Die Konfliktlage kam nach 1945 massenhaft vor: Der Krieg hatte Ehepartner auseinandergebracht, viele Frauen wollten ihre gewonnene Selbstständigkeit nicht wieder verlieren. Nur hatte nach damaligem Recht der Mann die Entscheidungsgewalt in allen Ehebelangen. Ruth Blaue hätte sich scheiden lassen können, aber Paragraf 6 des Kontrollratsgesetzes Nr. 16 der Westzonen-Alliierten hätte es ihr verboten, danach den "Scheidungsgrund" - also den Flieger Horst Buchholz - zu heiraten.

Heute werden die Zuschauer im Fernsehen mit einem gewaltigen forensischen Aufgebot konfrontiert. US-Doku-Serien wie "Autopsie" (RTL II) oder "Medical Detectives" (Vox) sind vor allem eine Leistungsschau der Polizeibehörden und der Gerichtsmedizin. Aber vertiefende Erkenntnisse über Täter, bestimmte Muster oder Häufungen von Delikten sind nicht beabsichtigt.

Der gesellschaftlich "unterrichtende" Aspekt, wie er Friedrich Schiller vorschwebte, wird in diesen Serien verdrängt von kriminaltechnischen Erfolgsmeldungen. Die Kriminaltechnik zerfällt heute in zahlreiche Spezialgebiete, und mit den Verfahren der DNA-Analyse werden auch viele "cold cases" erfolgreich wieder aufgerollt - der genetische Fingerabdruck erscheint wie der Schlüssel zur Weltformel.

Mit Sicherheit würde die Kriminaltechnik heute auch Elisabeth Wiese überführen können. Als nach ihrem Todesurteil diskutiert wurde, ob man eine Frau auf der Guillotine hinrichten dürfe, sollen sich empörte Hamburgerinnen als Helferinnen angeboten haben. Der Scharfrichter vollstreckte das Urteil am 2. Februar 1905 im Hof des Untersuchungsgefängnisses Vor dem Holstentor mit dem Fallbeil, ohne fremde Hilfe.