Als Jude musste Ernst Cramer Deutschland verlassen. Als Versöhner kehrte er nach dem Krieg zurück. Axel-Springer-Vorstandschef Mathias Döpfner würdigt den großen Publizisten, der gestern mit 96 Jahren starb.

Es ist schön, dass Sie da sind."

Das war mein letzter Satz, den ich Ernst Cramer beim Verlassen seines Büros gesagt habe, nicht ohne etwas Pathos, was mich selbst wunderte. Vergangenen Freitag hatten wir wieder unseren monatlichen Jour fixe, und ich war froh, den Sechsundneunzigjährigen in besonders guter Stimmung und offenbar bei bester Gesundheit zu erleben. Ernst Cramer war für seine Verhältnisse geradezu aufgekratzt. Er freute sich über ein neues deutsch-israelisches Journalistenstipendium, das der Verlag gerade beschlossen hatte. Wir redeten über die Zeitungen des Hauses, über die Axel-Springer-Stiftung und über seinen 97. Geburtstag am 28. Januar. Wie immer weigerte er sich, diesen Geburtstag zu feiern. Wie immer akzeptierte er, dass wir ein Essen zu seinen Ehren veranstalten würden. "Wir machen das nicht für Sie, nur für die Gäste." Das Argument wirkte, wie immer. Zum ersten Mal erwähnte Ernst Cramer seinen 100. Geburtstag, den er gerne erleben würde. Und dann sagte er: "Aber Mathias, Sie wissen schon, in meinem Alter kann es jederzeit zu Ende sein." Dabei klopfte er sich mit der Faust auf den Kopf und lachte schelmisch.

Nun ist es zu Ende. Am Montag wurde Ernst Cramer nach einem Herzinfarkt von einem Fahrer, den er noch selbst bestellt hatte, ins Krankenhaus gebracht. Am Dienstag in den frühen Morgenstunden ist er gestorben.

Ernst Cramer hat den Verlag Axel Springers entscheidend geprägt. Er hat die Werte-Architektur des Hauses gestaltet und verteidigt wie kein anderer nach dem Gründer. Die Präambeln, die fünf gesellschaftspolitischen Grundwerte - die Bekämpfung jeglicher Art von Totalitarismus, die Unterstützung der deutschen Einheit, der Lebensrechte des Staates Israel, der sozialen Marktwirtschaft und später des Transatlantischen Bündnisses - hat er zwar nicht erfunden, er musste sie, anders als oft kolportiert, Axel Springer auch nicht einreden. Sie gingen, wie Cramer oft erzählt hat, im Jahr 1967 allein von Axel Springer aus. Aber Cramer hat die Präambeln hochgehalten, als sie ganz und gar nicht dem Zeitgeist entsprachen und auch innerhalb des Verlages in Vergessenheit zu geraten drohten. Und Ernst Cramer hat diese Werte gelebt, verkörpert wie niemand sonst.

Geboren wurde er 1913 als Sohn einer jüdischen Familie in Augsburg. Sein Vater, ein kleiner Unternehmer und ein Bewunderer Brechts, verarmte während der Weltwirtschaftskrise in den Zwanzigerjahren. Wie Ernst Cramer mir in unserem letzten Gespräch erzählte, konnte er deswegen die Schule nicht abschließen, und sein Traum, Lehrer zu werden, blieb unerfüllt. Er musste arbeiten, Geld für die Familie verdienen. Nach dem Pogrom vom 9. November 1938 wurde er sechs Wochen im KZ Buchenwald inhaftiert, konnte dann aber in die USA auswandern. Dort arbeitete er zunächst auf einer Farm und schrieb sich für ein Landwirtschaftsstudium ein. Nach dem japanischen Überfall auf Pearl Harbour meldete er sich, mittlerweile amerikanischer Staatsbürger, als Freiwilliger zum Kriegsdienst. 1944 kam er als GI in das Land zurück, das seine Eltern und seinen Bruder ermordet hatte. Dort begegnete er nicht nur den Spuren von Verwüstung und Völkermord, sondern, wie er immer wieder gerne erzählte, einer Klofrau, die ihm ein Privileg und eine Versöhnung besonderer Art anbot: "Sie dürfen in meine Toilette kostenlos rein, Sie sind ja Jude."

Als Presseoffizier der US-Militärregierung engagierte er sich in Bayern für die Reeducation. 1958 begegnete er, im Auftrag einer großen amerikanischen Nachrichtenagentur, Axel Springer. Der war von Cramers Mut zum Widerspruch angetan. "Ich brauche nicht noch mehr Yes-Men." Springer machte ihn zum stellvertretenden Chefredakteur der "Welt", später zum Herausgeber der "Welt am Sonntag", zum Leiter des Verleger-Büros und schließlich zum Mitglied des Aufsichtsrates. Seit 1981, also fast 30 Jahre lang, leitete er die Axel-Springer-Stiftung.

Ernst Cramer kämpfte gegen Nazi-Deutschland, und später in der Bundesrepublik gegen rassistische und chauvinistische Traditionen, weil er ein anderes Deutschland kannte und hier wieder der Freiheit eine Gasse bauen wollte, wie er sagte. Er kämpfte und er kam zurück, weil er das Deutschland seiner Kindheit liebte. Vor allem aber: Er kämpfte und er kam zurück, weil er Hitler nicht das letzte Wort überlassen wollte. Cramers Biografie ist auch eine Nachkriegsbiografie - zum Vorbild vieler. Sein Weg, sein kämpferischer Rück-Weg nach Deutschland, ist für viele deutsche Juden ein Leitbild, warum und wie man nach Hitler wieder im Land der Täter leben kann.

Dem Axel Springer Verlag hat Ernst Cramer viel gegeben: Geist, Weltoffenheit, Werte, journalistisches Temperament. Und er tat dies bis zuletzt, jeden Tag, ab zehn Uhr in seinem Büro. Jahresgehalt: ein Euro. Zuverlässig von der Personalabteilung überwiesen.

Ernst Cramer war Axel Springers rechte Hand und einer seiner Testamentsvollstrecker. Und er war Gesprächspartner, Sparringspartner, Ratgeber für Friede Springer, die Chefredakteure und den Vorstand des Hauses. Vor allem aber war Ernst Cramer ein gefragter Autor, der mit Temperament und Klarheit zu historischen und aktuellen Themen schrieb, ganz gleich ob in "Bild", in der "Welt" oder in der "B.Z".

Sein letzter vor seinem Tod veröffentlichter Text erschien am 10. Januar 2010 in der "Welt am Sonntag". Unter der Überschrift "Die religiöse Freiheit ist absolut" beschäftigte er sich mit dem Schweizer Volksentscheid zum Verbot der Minarette. Entschieden plädierte er für religiöse Toleranz und berief sich auf das Grundgesetz: "Die Freiheit der religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisse ist unverletzlich. - Da gibt es kein Quidproquo, kein Du darfst bei uns Moscheen bauen, wenn auch wir bei dir zu Hause Kirchen errichten dürfen. Die religiöse wie jede andere Freiheit - also auch der Bau von Gotteshäusern - ist bei uns absolut, bedingungs- und vorbehaltlos. Daran sollten wir nicht rütteln, auch wenn andere darüber grundverschieden denken. " Damit schloss sich ein publizistischer Lebenskreis, ganz im Sinne von Lessings Ring-Parabel aus "Nathan der Weise."

Ernst Cramers Texte, seine Kommentare und seine zeitgeschichtlichen Erinnerungsstücke waren bei den Redakteuren beliebt, nicht weil sie von einem ehrwürdigen alten Mann stammten, dem man respektvoll Reverenz zu erweisen hatte, sondern weil sie klug, frisch und oft überraschend waren. Cramer druckte man wirklich gerne.

Sein Rat, das Gespräch mit ihm, waren ebenfalls beliebt, weil er nicht auftrat wie ein Zeremonienmeister alter Etikette und niemals das Lied "Früher war alles besser" sang. Sondern weil er mit großer Neugier und Zukunftswachheit sprach. Er hatte eine Art alt zu werden, die Bewunderung erzeugte. Fröhlich wies er vor wenigen Tagen darauf hin, dass heute vor 80 Jahren sein Berufsleben, sein erster Arbeitstag begann. Körperlich erstaunlich fit, auch wenn die Füße schmerzten, immer zu Fuß unterwegs. Bis zuletzt war er hellwach, blitzschnell, weltoffen und dem Neuen zugewandt. Er las alles, morgens zuerst die "International Herald Tribune". Und manchmal argumentierte er jünger als seine 30-jährigen Gesprächspartner. Im Jahr 2005 rief er mich zu sich und hatte ein überraschendes Anliegen: "Ich mache mir Sorgen", sagte er, wie immer ohne Dialekt, aber mit augsburgisch gerolltem R: "Der Verlag muss mehr für das Internet tun." Wenige Monate später saß ich wieder in seinem Büro und entdeckte neben seiner Triumph-Schreibmaschine, Modell "Matura Super", auf der er immer noch seine Artikel tippte, einen Computer-Bildschirm. Mit 92 Jahren begann der Mann zu googeln.

Ernst Cramer ließ Gesprächspartner nicht kommen, er kam lieber selber. Meine Überraschung als Chefredakteur der "Welt" war groß, als er sich mit mir zum ersten Mal verabredete und darauf bestand, sich zu mir zu bemühen und nicht umgekehrt: "Sie sind Chefredakteur und haben wenig Zeit." Drei Minuten später stand er im Zimmer und handelte kurz seine Anliegen ab. Die Bescheidenheit und dieses Understatement beeindruckten mich. Auch und gerade weil sich die Sache änderte, seit ich Vorstandsvorsitzender bin. Seither ließ er mich bei sich antreten. Zwei für Ernst Cramer charakteristische Dinge verriet diese Angewohnheit: Erstens einen sehr sympathischen Hang zum Antiautoritären. Zweitens einen ebenso sympathischen Hang zum Journalismus.

Cramers Botschaft war klar und bleibt auch in Zukunft richtig: Die Journalisten sind die Wichtigsten in diesem Haus.

Ernst Cramer, obschon aus Süddeutschland, hatte ein hanseatisches Wesen. Understatement, der Ernst der Sachlichkeit, echte Bescheidenheit prägten ihn. Bei unserem ersten Treffen in einem Berliner Caféhaus fuhr er mit einem alten blauen VW-Golf vor. Einen Fahrer wollte er bis vor einem Jahr nicht akzeptieren. Eine Trauerfeier wollte er auch nicht. Und seine schriftlich hinterlassene Begründung ist so bewegend, dass man sie demütig respektieren muss. "Ich bitte dringend darum, dass es keine Trauerfeier oder dergleichen geben soll. Das gilt für das Haus Axel Springer ebenso wie die Stiftung oder irgendeine andere Organisation, der ich angehörte oder die sich verpflichtet fühlt. ,Kein Leichenfest' ist meine letzte, dankbare und wehmütige Verbeugung vor meinen Eltern und meinem Bruder, für die es nicht nur keine Trauerfeier gab, sondern keine Beerdigung, keine Ruhestätte, kein Grabmal; ja, an deren Mord ich indirekt dadurch mitschuldig bin, dass ich zu lange geglaubt hatte, das Entsetzliche, der Massenmord, könnte in Deutschland nicht möglich sein; deshalb bin ich viel zu spät ausgewandert und konnte dann die Emigration von Eltern und Bruder nicht mehr bewerkstelligen."

Das Trauma des Holocaust, das kompromisslose "Nie wieder", war Ernst Cramers Lebens-Movens. Was er tat, tat er in diesem Sinne. Das meiste leise. Sein Ton war ein Ton der Versöhnlichkeit. Aber nie des Appeasements - gerade auch was den Umgang mit dem Antisemitismus muslimischer Fundamentalisten betraf.

Im Verlagsalltag war Ernst Cramer Diplomat. Einer, der mit allen redete, der den Ausgleich suchte und für viele Seiten Verständnis, manchmal fast zu viel Verständnis hatte. Die große Geste, das große Gefühl war seine Sache nicht. Wie viele Menschen, die sehr alt werden, war er schwer erregbar. Berührt, bewegt, gar aufbrausend sah man ihn selten. Fast eine gewisse Kühle und Abständlichkeit prägten ihn. Ganz nach Brecht: In mir habt ihr einen, auf den könnt ihr nicht bauen.

Bedingungslose Loyalität kannte er nur einem gegenüber, weit über seinen Tod hinaus: Axel Springer. Um sein Geschichtsbild, für sein Andenken kämpfte er, von Erinnerungsartikeln bis zum Streitgespräch mit Peter Schneider über die 68er-Bewegung. Kein Geburtstag, kein Todestag Springers, an dem er nicht zu seinem Grab pilgerte, um nach alter jüdischer Tradition einen Stein auf den schwarzen Marmor zu legen.

Ernst Cramer sagte mir einmal, der glücklichste Tag in seinem Leben sei der 9. November 1989 gewesen: "Ein deutsches Erlebnis, dem ich vollen Herzens zugestrebt bin. Als die Menschen über die Mauer gestiegen sind. Ich muss zugeben, mit Tränen in den Augen stand ich dabei." Warum hat Ernst Cramer sich so gefreut? Ich glaube, weil am 9. November 1989 bewiesen war, dass Hitler und in diesem Fall auch Stalin in der deutschen Geschichte eben nicht das letzte Wort hatten. Das trieb ihn an.

Sein letzter Brief am 12. Januar dieses Jahres ging nach Israel, an Ruth Cheshin von der Jerusalem Foundation. Gut gelaunt ironisch begann er: "Meine Gesundheit ist wiederhergestellt. Und so weit hat die Wiederkehr von Schnee im Zeitalter der globalen Erwärmung mein Wohlbefinden nicht beeinträchtigt." In dem Brief teilte er mit, dass der Axel Springer Verlag ein auf zehn Jahre angelegtes Stipendium für deutsche und israelische Journalisten gestiftet hatte. Und am Schluss wurde er ernst: "Solch ein Austausch hilft, die deutsch-israelische Freundschaft in die nächste Generation zu tragen - was von allererster Bedeutung ist."

Ernst Cramers freiheitliches, auf deutsch-amerikanische und deutsch-israelische Freundschaft zielendes Lebenswerk ist groß. Es wird in diesem Verlag weiterleben.

Es ist traurig, dass er nicht mehr da ist.