Die Erkenntnisse der Welt sind von den Büchern ins Internet umgezogen. Daran schreibt jeder mit, von der Hausfrau bis zum Professor.

Dass Ernie Wasson so stolz hinter seiner Salbeipflanze steht und selig unter seiner Hutkrempe lächelt, war nicht der Grund dafür, dass der amerikanische Botaniker jetzt in der Internet-Enzyklopädie Wikipedia verewigt ist. Wohl aber das Foto selbst: Denn über die Güte des Artikels bestand keine Einigkeit in der Gemeinde der Enzyklopädie-Autoren, erst mit dem Bild fand auch der Text Gefallen. Es war der 1 000 000. Eintrag in deutscher Sprache - ein weiterer Meilenstein in der Geschichte der neun Jahre alten Seite.

Das kostenlose Mitmachlexikon ist ein Paradebeispiel für den Siegeszug von Web 2.0, dessen Grundlage die Bereitschaft des Nutzers ist, nicht nur zu rezipieren, sondern zu partizipieren. Es sind wissenschaftliche Arbeiten über Wikipedia geschrieben, schöne Worte und Beschreibungen ersonnen worden: "Graswurzeldemokratie" zum Beispiel, und "Schwarmintelligenz". Weil die vielen das Viele in einem Online-Kompendium zusammenfassen und dabei in so regem Austausch stehen, dass bisweilen Tastaturen an die Wand geklatscht werden.

Diesen einmillionsten Artikel wollten viele schreiben. In der Nacht vom 26. auf den 27. Dezember zog die Zahl der neu veröffentlichten Artikel rapide an, über 1000 waren es, die gerne ihr Wissen der Allgemeinheit zur Verfügung stellen wollten. 1000 neue Artikel, und am Ende wird ein Botaniker, von dem die meisten noch nie etwas gehört haben, zur Internet-Berühmtheit - zumindest unter den Usern der Wikipedia. Das sind viele, 330 Millionen weltweit und etliche Millionen in Deutschland. Genau weiß das die Wikipedia-Sprecherin nicht. Was komisch ist, im binären Code der Einsen und Nullen liegt jede Datenvermehrung so durchsichtig vor einem wie eine Klarsichtfolie. Catrin Schoneville kann trotzdem nicht sagen, wie viele Internet-Surfer es genau sind, die das virtuelle Lexikon aufschlagen. Wohl auch, weil die Erfolgsgeschichte, mancher Probleme zum Trotz, zuletzt viele außergewöhnliche Kapitel geschrieben hat. Mit dem Höhepunkt der runden Zahl. Wikipedia ist jetzt ein Millionenseller. "In der jüngsten Vergangenheit war der Anstieg der Nutzer enorm", sagt Schoneville. Was stimmt: Wikipedia ist mittlerweile die Homepage, die bei der Liste der am meisten besuchten Internetseiten auf Platz 6 steht.

Das Internet wächst unaufhörlich, scheinbar ins Unendliche, und mit ihm die Zahl der User. Ganz junge kommen dazu, aber auch ältere. Quer durch alle Altersschichten erobert sich das Netz seine Anhänger. Kein Wunder, dass zunehmend auch Ältere www.wikipedia.org besuchen, anstatt zum Brockhaus zu greifen.

"Es wird die große Aufgabe in den kommenden Jahren sein, die Qualität weiter zu steigern", sagt Pavel Richter, Geschäftsführer von Wikimedia Deutschland. Das ist der eingetragene Verein, der die "freie Enzyklopädie", die die Wikipedia in ihrer Selbstbeschreibung ist, in deren Arbeit unterstützt. Für die virtuelle Angelegenheit gibt es mittlerweile eine steinerne Heimat und eine Postanschrift in Berlin. Zehn Menschen arbeiten hier seit 2008. Es geht ihnen darum, Wikipedia bekannter zu machen. Wie die meisten populären Internetseiten wurde Wikipedia in den USA erfunden, und wenn der Gründer Jimmy Wales seit einigen Wochen wieder wie jedes Jahr im Winter um Spenden wirbt, dann sammeln sich diese auf dem Konto der Muttergesellschaft Wikimedia Foundation. 430 000 Dollar kamen bereits am ersten Tag nach dem Aufruf zusammen. Aber auch der deutsche Ableger kann sich nicht beklagen. "Wir haben jetzt schon die 340 000 Euro von der letzten Spendenaktion übertroffen", sagt Richter. Der frühere Unternehmensberater hat mal als Artikelautor bei Wikipedia angefangen, jetzt ist er Chef der nach dem Mutterhaus einzigen Dependance mit eigener Geschäftsstelle.

Jeder kann mitmachen, und genau auf diesem Prinzip gründet der Erfolg der Wikipedia. Zur Arbeitsweise Wikipedias gehört die stete Überprüfung dessen, was es wert ist, in ein Lexikon aufgenommen zu werden. Die Relevanzdebatten der vereinigten Autorenschaft - 7000 schreiben regelmäßig deutschsprachige Artikel - sind Legion, und nicht nur der Jubiläums-Botaniker Wasson musste sich einer genauen Prüfung unterziehen. Manche sprechen derzeit trotz der nicht abebbenden Anzahl von Neulesern von einer Krise im System Wikipedia: weil die Kriterien aus Sicht einiger zu hart sind, was die Aufnahme neuer Artikel angeht. Oder weil manche nicht akzeptieren, wenn Ergänzungen bei bestehenden Einträgen vorgenommen werden. Im Umkehrschluss freilich zeugt das ständige Hinterfragen vom großen Ehrgeiz der Wikipedianer: Das Ziel von Deutschland-Chef Richter, qualitativ besser zu werden, baut nämlich auf einem inzwischen soliden Fundament. Die Inhalte von Wikipedia fallen im Vergleich zum Brockhaus oder der Encyclopedia Britannica keineswegs ab. Die Wikipedia-Qualität steigt, muss man präzisieren, wenn sich die Güte der Artikel angleicht. Wenn ein Literaturwissenschaftler einen Beitrag über die Erzähltheorie von Genette verfasst, tut er das auf hohem Niveau. Wenn ein Sport-Fan einen Artikel über sein Idol in einer kleineren Sportart schreibt, bleiben notwendigerweise Lücken. Die müssen geschlossen werden. Erst in den vergangenen Jahren ist die Artikelzahl explodiert, seitdem wachsen auch die Anforderungen, die sich verändernden Einträge zu pflegen. Das ist die Stärke der Wikipedia, das siegbringende Plus im System: dass eine Aktualisierung immer möglich ist. Neue Statistiken zum Beispiel fließen immer in die Internet-Enzyklopädie mit ein, und als Medium für die Verbreitung von aktuellen Nachrichten, etwa von Krisensituationen, wird Wikipedia zunehmend genutzt. An dem Online-Nachschlagewerk wird rund um die Uhr gearbeitet. Als die Todesmeldung von Michael Jackson im vergangenen Jahr über den Ticker ging, stand dies Sekunden später im Artikel zu dem Popstar.

In Zukunft, sagt Richter, will Wikipedia mehr auch die Meinung der Leser hören. Die kam bisher zu kurz und dürfte den Machern in der Tat noch neue Horizonte erschließen. Bislang schien eher die Seite der Community interessant, des Kreises derer, die die Wikipedia zum Laufen bringen. Die arbeiten an einem jedermann zugänglichen Gut - ehrenamtlich und mit der vom wirklichen Leben aus betrachtet immer noch seltsamen Möglichkeit vor Augen, eine virtuelle Reputation als Artikelschreiber zu erlangen. Wer für Wikipedia schreibt, bleibt anonym und bekommt allenfalls in der Gruppe der Beiträger Prominenz. Der Frankfurter Soziologe Christian Stegbauer hat die Kräfte, die in einem auf interaktiver Kooperation beruhenden Projekt walten, anhand von Wikipedia beschrieben.

Im virtuellen Raum gibt es laut seiner Studie dieselben Rollenkämpfe wie im wirklichen Leben. Konkurrenzdenken und Kompetenzgerangel bilden letztlich erst das heraus, was bei Wikipedia am Ende herauskommt: das Gemeinschaftswerk einer weltweiten Autorenschaft, die jede Dimension einer herkömmlichen Redaktion sprengt. In einer Publikation, die täglich, stündlich, ja minütlich wächst, potenziert sich die Zahl der Diskussionen. Am Ende wird dann eben doch nicht basisdemokratisch entschieden, weil eine in Teilen immer anarchische Struktur implodieren würde, wenn nicht einer entschiede. Bei Wikipedia bilden die "Administratoren" die Führungsgruppe. Nur sie können Autoren sperren oder Artikel löschen. Letztlich sorgt eine Tugend, die so uralt ist wie das Leben selbst, für die Ausbildung dieser Elite: der Fleiß. Wer viel schreibt, darf entscheiden. Neulinge haben es schwer, in den erlauchten Zirkel einzudringen. Aber sie können es schaffen, indem sie sich die Achtung der anderen Schreiber erwerben.

Robinson Aschoff ist Wissenschaftler an der Universität in Zürich, er erforscht die Arbeitsweise von Internetforen und kollaborativen Projekten. Als Experte für nutzergenerierte Inhalte im Netz beschäftigt sich der 35-Jährige auch mit Wikipedia.

Wenn man ihm die Frage stellt, ob Wikipedia zur Demokratisierung des Wissens beigetragen hat, muss Aschoff nicht lange überlegen. Wer Internet hat, kann auch durch Wikipedia auf freies Wissen zugreifen, "und deswegen ist die Verteilung von Wissen tendenziell fairer geworden", sagt Aschoff. Außerdem leiste Wikipedia im Wust der Informationen einen strukturierenden Beitrag, "die Enzyklopädie konsolidiert das Wissen".

Und das auf so effiziente Art und Weise, dass "Wikis", also Internetseiten, die gemeinschaftlich online gestaltet und bearbeitet werden, für viele Bereiche verwendet werden. So gibt es beispielsweise eine Hamburg-Wiki. An diesem Lexikon schreiben viele Lokalpatrioten mit. Außerdem nutzen viele Unternehmen die Möglichkeiten, ihre Projekte in Wikis zu konzipieren. Was Wikipedia im World Wide Web macht, proben Firmen in ihrem Intranet im Kleinen. Am großen Ganzen der Wissensgesellschaft arbeitet jedoch nur Wikipedia. Früher wussten diejenigen, die in der Gutenberg-Galaxis der Bücher unterwegs waren; heute wissen auch (oder viel eher noch) die, die online sind. "Wikipedia und die anderen Wikis haben das Wissensmanagement nachhaltig verändert", erklärt Forscher Aschoff. Es gibt Untersuchungen darüber, wie Firmen und Politiker versuchen, Artikel zu beeinflussen, und es gibt Online-Vandalismus, der Artikel sinnentstellt. Aschoff erklärt, "dass auch der Umgang von Wikipedia eine bestimmte Medienkompetenz verlangt"; das Problem des Vandalismus sei aber kein großes mehr, "die Wiederherstellung der Seiten erfolgt schnell".

Das Ende des Buchzeitalters ist eingeläutet. Im vergangenen Jahr gab Brockhaus bekannt, sein Lexikon künftig nicht mehr in der gedruckten Version, sondern nur noch digital zu veröffentlichen. "Da geht es einfach nur um das Ersetzen eines Systems durch ein anderes", sagt Wikipedia-Chef Pavel Richter. Ein Grund, in Triumphgeheul auszubrechen, sei das nicht. "Wir arbeiten noch daran, dass alle unsere Artikel das Niveau des Brockhaus haben."

Deshalb gibt es Preise, die für den besten Artikel ausgelobt werden, und Partnerschaften wie die mit dem Bundesarchiv. Das stellt Wikipedia künftig Bilder zur Verfügung. Die visuelle Gestaltung der Einträge soll besser werden, "das ist eine unserer großen Aufgaben", sagt Richter.

Bewegtbilder gibt es in dem Internetlexikon übrigens nicht. Was den Mediengewohnheiten der meisten gerade nicht entspricht: Ganz vorne in der Liste der meistgeklickten Seiten ist unangefochten YouTube. Dort regiert nicht das Wort, sondern der Film, der von jedem User hochgeladen werden kann. Mit Wissen hat YouTube so wenig zu tun wie Wikipedia mit Entertainment.