Einst waren es Kohle und Stahl, jetzt kommen 53 Städte kulturell auf einen Nenner: 2010 wird das Ruhrgebiet Kulturhauptstadt. Eine Liebeserklärung.

Essen/Hamburg. Am 9. und 10. Januar wird mit einem großen Fest das Ruhrgebiet für ein Jahr zur "Kulturhauptstadt Europas 2010". Ein freudiger Moment für den Kohlenpott. Und ein trauriger für Hamburg, denn die Bewerbung um diesen Titel hatte der CDU-Senat im Jahr 2003 abgelehnt. Begründung: einmal die Kosten von 40 Millionen Euro. Und dann die Konzentration auf den Schwerpunkt Wachsende Stadt. Die Opposition monierte, damit werde eine Chance zur Präsentation Hamburgs als Kulturstadt verschenkt. Das Ruhrgebiet aber feiert trotz Finanzkrise. Und lenkt die Aufmerksamkeit Europas auf seine Kultur.

Hömma!" In Wesel, am Rand des Ruhrgebiets, sagten auch früher schon immer alle ständig "Hömma!" Mit "Hömma!" fingen Sätze an, um ein Gespräch zu beginnen oder einen Pflock in dieses zu rammen. "Hömma!" hieß: "Jetzt bin ich dran, und ihr seid ruhig." Reichte das nicht, wurde ein trotziges "Boah, hömma!" nachgelegt.

In diesem "Hömma!" konzentriert sich die Seele des Ruhrgebiets aufs Schönste. Stolz, kernig, laut. "Hömma" heißt übersetzt so viel wie "Hör mal!" Und dieser Pott, der will wahrgenommen werden. Im kommenden Jahr hat er die Chance dazu. Denn wo längst Kunst an- statt Kohle abgebaut wird, da ist man jetzt Kulturhauptstadt. Genauer gesagt: Man ist 53 Kulturhauptstädte. Das heißt dann "Ruhr.2010".

Doch ob Kumpel oder Kreative, die Menschen im Revier tragen ihre Sprache wie eine Auszeichnung. In der Schule zelebrierten wir ihn regelrecht, den Pott-Duktus, den spätestens Querköpfe wie Helge Schneider bundesweit zwar nicht salonfähig gemacht, aber immerhin dem bayerischen oder nordischen Ohr nähergebracht hatten.

Statt zum Kiosk gingen wir zum "Büdeken" (von Bude, Büdchen), von dem jede Straße, die was auf sich hielt, mindestens eines besitzen sollte. Vor dem Verkaufsfenster hatten die Stammkunden Posten bezogen, in der Regel beim "lecker Pilsken" (von Pils, Pilschen).

Neben dem -ken ist auch das -ski eine beliebte ruhrgebietsche Endung. Die polnischen Pott-Bewohner standen in den 80er-Jahren nicht nur im Telefonbuch, sondern spielten auch im Fernsehen. Vor allem der eine, Schimanski. Der spielte Bulle. Und Proll. Und Ruhrgebiet-Ikone. In Duisburg. Als er 1991 in "Tatort"-Rente ging, erklärte Duisburgs damaliger Oberbürgermeister Josef Krings: "Jetzt bleibt uns nur noch der MSV."

Als Kind sind einem Begriffe wie Identität erst einmal ziemlich egal. Doch wenn in der Rückschau als erstes Lied der Fußball-Fangesang des MSV im Gedächtnis ist ("Zebrastreifen weiß und blau"), dann zeigt sich: Der Pott sitzt in einem. Und auch seine Hässlichkeit ist selbstverständlich. Zumindest, bis man weggeht. Oder Besuch bekommt.

Als ich zum Studium nach Bamberg zog, irritierte mich die historische Schönheit dieser Unesco-Puppenstube. Und als zwei meiner fränkischen Kommilitoninnen zu Gast waren und ich mit ihnen in unsere in den 50er- bis 70er-Jahren entstandene Innenstadt ging, entfuhr es der einen: "Ist das hässlich hier!" Es wurden Ostblock-Vergleiche gezogen.

Ich war noch nicht mal sauer. Ich mochte das Hässliche ja. Ich war es gewohnt, mit meinen Freunden auf den Resten der alten Weseler Rheinbrücke zu picknicken, die im Krieg ebenso zerstört worden war wie 97 Prozent der Stadt. Von den bemoosten Klinkerruinen guckten wir auf die Binnenschiffe, die schwarze Berge spazieren fuhren. Am liebsten aber fuhren wir selbst.

Wer im oder beim Ruhrgebiet aufwuchs, der fuhr. Als Kinder machten wir mit der Familie Tagesausflüge nach Essen - seit jeher "die Einkaufsstadt" und 2010 zudem Kapitale des Kulturkonglomerats "Ruhr.2010".

Mindestens einmal fuhr jeder auch nach Bochum zum "Starlight Express". Ein Musical, in dem die Sänger auf Rollschuhen über Pisten durch die Zuschauerreihen sausten. Kein Wunder, dass das Stück so erfolgreich ist. Der Mensch im Revier kennt das. Am Duisburger Kaiserberg hat er ein Autobahnkreuz, das Spaghetti-Knoten genannt wird. Ein Sinnbild für die Verflechtung des Dezentralen. Vermutlich sähe das Internet ein bisschen aus wie das Ruhrgebiet, würde es in Stein gemeißelt.

Doch zurück zum Fahren: Als der Erste aus der Clique den Führerschein gemacht hatte, reisten wir zum Ausgehen durch die Nacht. Im Pott hießen die Diskotheken lokalkoloriert "Druckluft" oder "Turbinenhalle". Manchmal trieb es uns auch bis nach Düsseldorf, wo die Läden, dem gehobenen Umfeld angepasst, auf Namen wie "Rheingold" oder "Unique" hörten. Doch in der Erinnerung hinterließen die Fahrten die schönsten Spuren.

Wir rauschten über die Autobahnen, während die Fördertürme, die Schlote und Räder der Bergwerke und Industrie-Anlagen weiß und orange leuchteten. "Boah, guck mal, wie geil das wieder aussieht", sagte irgendwann einer. Wenn wir noch Musik von Monster Magnet einlegten - kreischiger Rock, der laut gehört werden musste -, fühlten wir uns wie in einer düsteren Science-Fiction-Szenerie. Wir, die wir durchs Ruhrgebiet fuhren, hätten uns in "Blade Runner" spielend zurechtgefunden.

Derart industrieromantische Glückseligkeit erlebe ich in Hamburg ab und an beim Blick auf den Hafen. Auch wenn die Leute dort "Moin" sagen - und nicht "Hömma!".