Ralph Giordano hat sich sein Erleben der Nazi-Verfolgung von der Seele geschrieben. Ein Buch, das zeigt, wie Opportunismus den Alltag erobert.

Vierzig lange Jahre hat es gedauert, bis dieses Buch 1982 das Licht der Bundesrepublik erblicken konnte. Vierzig lange Jahre, in denen der Autor als Fernsehreporter in fremden Ländern recherchierte und drehte. Vierzig lange Jahre, in denen er, ohne zu schreiben, um die Form rang, in der er das Ungeheuerliche seines Lebens und seines Überlebens der Welt mitteilen könnte.

Denn es geht um nichts weniger als um einen kompletten Zusammenbruch all dessen, was er als kleines Kind fest und sicher gefügt geglaubt hatte: die Freundlichkeit seiner Mitmenschen, das friedliche Miteinanderleben in Hamburg, eine normale Jugend mit normalen Freunden. Das Lernen auf einer angesehenen Hamburger Schule, das angstfreie Leben in der Stadt, ein Familienleben ohne Schatten und geflüsterte Bedrohungen. Und einen Staatsapparat, der genau darüber verlässlich wacht.

Mit den Bertinis hat Ralph Giordano, anhand von Aufzeichnungen, die er sich später in den Nazi-Jahren gemacht hatte und die er durch alle Bedrohungen über das Kriegsende hinaus retten konnte, sich eine gewaltige und unvergessbare Last von der Seele geschrieben: die Erfahrung, dass von einem auf den anderen Tag alles anders sein kann - der freundliche Nachbar ein Denunziant, die Kinder in Barmbek, die plötzlich nicht mehr mit den "Judenkindern" spielen wollen, ein schlichtes Rendezvous, das für den Sohn einer jüdischen Mutter zur gefährlichen, ja bald lebensgefährlichen Sache wird.

Eindringlich ist die Szene der Vertreibung der jüdischen Schüler von der Gelehrtenschule des Johanneums durch ein Spalier höhnischer Mitschüler. Einsamkeit und Angst ziehen seit 1933 ein in das Leben der Bertinis. Und Gewalt. Roman Bertini, die Hauptfigur, wird von der Gestapo verhaftet, in die Folterkammern an der Stadthausbrücke gebracht und dort an Leib und Seele gequält - einer der Vorwürfe lautet: "Rassenschande". Roman Bertini bleibt stumm - und definiert in diesen unbeschreibbaren Momenten des Schmerzes Glück so: "Ungeboren bleiben."

Todesangst, das hat Ralph Giordano immer wieder gesagt, die Möglichkeit, jederzeit und überall ohne Grund und Vorwarnung ermordet zu werden - das ist das Grundgefühl. Es hat sein ganzes weiteres Leben bestimmt, seine Kämpfernatur befeuert, ihn zum unbeugsamen Mahner gemacht, der die Finger in alle Wunden der gegenwärtigen Auseinandersetzungen legt, der Stellung bezieht, Zivilcourage zeigt, der vorangeht, um zu verhindern, etwas wie die Nazi-Ideologie möge wieder ein gesellschaftlich relevanter Faktor werden.

Schlimmer noch für die heutige Generation, für seine Leser in den knapp 30 Jahren seit Erscheinen der Bertinis, ist es zu erleben, wie sich Opportunismus - kleinlaut oder großkotzig - den Alltag erobert. Wie jeder Einzelne plötzlich vor der Frage steht: Und wo stehe ich in dieser Auseinandersetzung? Was kann ich tun, was sollte ich tun? Und was wird am Ende wirklich getan, das dann zählt?

Es sind unendlich viele kleine solcher Scheidepunkte, an denen eine Gesellschaft ins Unmenschliche kippt. An denen das Gift der Ausgrenzung Wirkung entfaltet. Aber Giordano berichtet auch von anständigen Mitbürgern und zuletzt von der Frau, die ihn, seine Mutter, den Vater und seine zwei Brüder in ein Kellerversteck an der Alsterdorfer Straße aufnahm. Als das Versteck beinahe entdeckt wird, drückt Roman Bertini, das Alter Ego des Autors, der Mutter eine entsicherte Pistole an den Kopf - sie soll nicht, das hat er geschworen, den Schergen lebendig in die Hände fallen und in die Konzentrationslager deportiert werden. Die Gefahr geht vorüber. Kurz darauf ist das Hitler-Reich besiegt, die Engländer befreien Hamburg, am 4. Mai 1945 kriechen die Bertinis, die eigentlich die Giordanos sind, aus dem Kellerloch, in dem sie fast verhungert wären, angenagt von Ratten.

Danach beginnt eine andere Geschichte, die Ralph Giordano prägen wird: die der Verleugnung und Verdrängung des Unrechts durch Täter und Mitläufer, des Kleinredens, Nicht-sehen-Wollens. Dagegen arbeitet er bis heute unerbittlich an.

Am 27. Januar wird alljährlich in Hamburg der Bertini-Preis verliehen. Er zeichnet Hamburger Jugendliche aus, die sich von Gewalt und Ausgrenzung nicht einschüchtern lassen, die Zivilcourage zeigen und die die Spuren vergangenen Unrechts erforschen. Jeder Preisträger - bisher etwa 1200 Jugendliche - bekommt von Ralph Giordano ein signiertes Exemplar der "Bertinis". Es gibt wenige Romane, deren Fortwirken so direkt das anpackt, was das Lebensziel des Autors nach seinem Überleben war: dafür zu sorgen, dass solches Unrecht nie wieder passiert.