Wenn 80 indische Künstler Massentänze und Yoga-Akrobatik vollführen, zeigt das auch den Aufbruchsgeist ihrer Heimat.

Frankfurt am Main. Falon Netto hockt auf dem Boden hinter der Bühne, während ein hochgeschossener Junge ihr ein paar lässige Schritte vortanzt. Hinter ihnen pumpen drei Halbstarke Hanteln. Zwei Näherinnen legen Hand an glitzernde Stoffe. Falon streicht eine Haarlocke beiseite und schickt dem Charmeur ein Lächeln. Bewundernswert gelassen ist sie. Dabei startet in zwei Stunden in Frankfurt die groß angekündigte Weltpremiere der Tanz-Zirkus-Show "India" - ihrer "neuen Familie", wie Falon sagt.

Die 24-Jährige aus Mumbai ist eine von 80 Tänzern, Artisten und Musikern, die bis 2011 durch Deutschland touren. Dieser aus den USA und England, hauptsächlich aber aus Indien zusammengesuchte Kreativverbund ist vor allem eins: jung. Und voller Tatendrang. "Wir wollen Indien im Aufbruch zeigen. Indien heute, das ist eine Fusion, da trifft Ost auf West, das ist Moderne basierend auf Tradition", schwärmt Brian Burke mit warmer Stimme. Der Regisseur ist ein alter Las-Vegas-Hase, der bereits Auftritte von Show-Dauerläufern wie Celine Dion auf spektakulär bürstete. Den Subkontinent hat er aber erst einmal betreten. Zum Casting in Mumbai, dem früheren Bombay.

Während in den indischen Megacitys die Multiplexe regieren, existiert auf dem Land die - schwindende - Tradition der fahrenden Kinos, um die populärste Kulturform, das Hindi-Cinema, mittlerweile Bollywood genannt, in entlegene Dörfer zu bringen. Um einen Kleintransporter, der den Projektor birgt, wird aus oft löcherigen Planen ein Zelt errichtet, das als Vorführsaal dient.

Reichlich Projektionsfläche bietet auch "India", das Europa mit seiner sehr freien Crossover-Interpretation von indischer Kultur versorgen will. Ebenfalls in einem Zelt. Doch vom provisorischen Charme ist die sieben Millionen Euro teure Produktion mindestens so weit entfernt wie Mumbai von Hamburg, wo die Show im Januar gastiert.

Falon tanzt in einer Arena mit 2000 Sitzplätzen, dem Herzstück der 18 000 Quadratmeter großen Anlage aus acht Zelten. 50 Sattelschlepper transportieren den 400 Tonnen schweren mobilen Palast, zudem 2800 Quadratmeter sonderangefertigte Teppiche.

Mit "India" versucht Produzent Matthias Hoffmann nach "Afrika, Afrika" einen weiteren interkontinentalen Brückenschlag. Und tatsächlich dekliniert diese Multikulti-Revue die Facetten des Milliarden-Einwohner-Landes beeindruckend durch: wüste Bangrah-Ekstase, Feuerschlucker und -spucker, Yoga-Akrobatik an Holzpfählen, Seiltricks, Kampfkunst, Magie, Poesie. Farben bersten, Körper biegen sich, Sinne staunen. Kein Aufklärungsunterricht, sondern Unterhaltung pur. Die Chemie in der - etwas überheizten - Zeltstadt funktioniert jedenfalls besser als etwa in der Color- Line-Arena, wo Shows wie "Bharati" gegen zugige Hallenatmosphäre ankämpfen mussten.

Falon ist in den Massenchoreografien zu sehen. Mal in weiß wallendem Rock, mal in schwarzer Spitze schwingt sie impulsiv die Hüfte. In bester Bollywood-Manier kombinieren diese Großtanzstücke, was gefällt. Das kann gelingen - wie beim Riverdance in Pumphosen. Oder missglücken - wie beim verkitschten Tüchertanz zu Stings "Desert Rose". Beigebracht haben ihr die vielen kleinen Schritte für die große Show Ray Leeper und Shiamak Davar. Der eine: US-Hochglanz-Choreograf, der bereits Cher und Elton John Pop-Pomp auf den Leib schneiderte. Der andere: indischer Superstar mit eigener TV-Show. Mit seiner Choreografie für den Bollywood-Blockbuster "Dhoom 2" löste Davar in seiner Heimat einen Patrick-Swayze-Effekt aus: Auf einmal wollten alle Jungs so tanzen wie Hauptdarsteller Hrithik Roshan. So geschmeidig, so flink, so sexy.

Kein Wunder also, dass sich Davars Stil im doppelten Sinne zur Bewegung auswuchs: Ähnlich dem Ansatz von Royston Maldoom - "Du kannst dein Leben verändern in einer Tanzklasse" - lehrt Davar frei nach dem Motto "Ich habe Füße, ich will tanzen" seinen Indo-Dance-Jazz nicht nur auf dem Subkontinent, sondern auch in den USA, Kanada und Australien.

Falon gehört seit vier Jahren zur Mumbaier Kompagnie von Shiamak, wie er von allen genannt und auf Muskelshirts sowie Trainingsjacken im "India"-Team omnipräsent ist. "Er ist mein Guru, mein Lehrer, und zugleich so liebevoll", sagt Falon mit entwaffnender Offenheit - und es klingt noch nicht mal aufgesetzt. Ebenso selbstverständlich verbreitet Davar über die Internetplattform Facebook seine Botschaften, die hierzulande höchstens auf Yogiteebeutelpapierchen zu finden sind: "Lass dich von der Angst vor den Reaktionen anderer nicht zurückhalten." Dass auch "India" mit einer eigenen Seite im Social Web Proben und Thanksgiving-Dinner kommentiert, ist ein Indiz für die Internationalität der Produktion. Indien heute, das bedeutet auch, den viel zitierten Zusammenprall der Kulturen als Potenzial zu nutzen. Leeper lobt das "zukunftsgerichtete Denken" der Crew. "Alle sprechen Englisch. Kommunikation ist kein Problem. Und die indischen Künstler sind sehr respektvoll, sie akzeptieren uns als Lehrer."

Insofern ist "India" nicht nur exotischer Eskapismus, sondern auch Leistungsschau der jungen Generation eines Landes. Und dass sich Ehrgeiz und Spiritualität nicht ausschließen, zeigt sich kurz vor der Premiere: Wie jeden Tag in der nur zwölfwöchigen Probenzeit fasst sich das Team an den Händen, um zu singen und zu beten. "Relax, I love you all", sagt Burke. Davar umarmt Einzelne und legt ihnen segnend die Hände auf den Kopf. Heimweh, sagt Falon, habe sie bisher nicht gehabt. "Wir haben ja die ganze Zeit trainiert." Gelassenheit will eben mitunter hart erarbeitet werden.

India, Heiligengeistfeld: 28.1.-3.3. Tickets u. a. in den HA-Ticketshops (T. 30 30 98 98)