Der spanische Autor Carlos Ruiz Zafón hat mit seinen Romanen Weltruhm erlangt. Der Meister der düsteren Erzählung las in Hamburg.

Wenn es stimmt, dass Bücher für ihre Autoren wie Kinder sind, dann war Carlos Ruiz Zafón immer ein treu sorgender Familienvater. Nur das extrem unterschiedliche Schicksal seiner Nachkommen bereitete ihm lange Kopfzerbrechen.

Sein Ältester, "Der Fürst des Nebels", machte sich gut, er hatte auch etwas Auslandserfahrung gesammelt. Und um seinen Fünftgeborenen aus dem Jahr 2001 mit dem poetischen Namen "Der Schatten des Windes" rissen sie sich wie verrückt. Aber was war mit den drei Bücherkindern, die er dazwischen in die Welt gesetzt hatte? Die spanischsprachigen Leser hatten ihre Freude an ihnen, aber der Rest der Welt wusste kaum von ihrer Existenz. Und längst war Zafón ein Autor für den Rest der Welt: Seit der Rittergroteske "Don Quixote" von Miguel de Cervantes war kein Buch eines spanischen Autors je wieder so erfolgreich gewesen wie "Der Schatten des Windes", und der Windmühlenbekämpfer und sein tapferer Knappe Sancho Pansa konnten für ihren Eroberungszug in die Herzen der Leser fast 400 Jahre Vorsprung nutzen. "Der Schatten des Windes", übersetzt in über 40 Sprachen, erreichte seine bisherige Gesamtauflage von rund zehn Millionen Exemplaren in acht Jahren.

Erst nachdem Zafón von den untereinander heillos zerstrittenen spanischen Verlegern seiner früheren Bücher die Rechte zurückgekauft hatte, konnte er seinem Agenten grünes Licht für Übersetzungen in andere Sprachen geben. Deshalb ist er nun in der merkwürdigen Situation, dass sein 14 Jahre altes Buch "Las luces de septiembre" unter dem deutschen Titel "Der dunkle Wächter" hierzulande als "der neue Zafón" gehandelt wird. Und die deutschen Ausgaben von "El palacio de medianoche" (1994) und "Marina" (1999) stehen dem Buchmarkt erst noch bevor.

"Ich versuche, die Verwirrung so gering wie möglich zu halten", sagt der 1964 in Barcelona geborene Autor, der seit 1994 in Los Angeles lebt und inzwischen schneller Englisch spricht als die meisten seiner Landsleute Spanisch. "Die Leser sollen wissen, dass meine vier für junge Erwachsene geschriebenen Bücher alle vor dem 'Schatten des Windes' geschrieben wurden." Um die Verwirrung noch um eine Umdrehung zu beschleunigen: Sein letzter wirklich neuer Roman, "Das Spiel des Engels" (2008), spielt vor dem "Schatten des Windes", und am Ende legt Zafón ein paar Fährten aus, die eine fantasievolle Verknüpfung der Handlungsfäden beider Romane in einem dritten Band zwingend erscheinen lassen - damit wäre die "Barcelona-Trilogie" komplett.

Der Schriftsteller mit dem sehr runden Gesicht und dem Fahrlehrerbart zeichnet von der Stadt seiner Kindheit wunderbar dunkle Bilder. Sie wollen so gar nicht zum neuen Image jenes Barcelona passen, das seit einigen Jahren zu einem der hippsten Städtereiseziele Europas geworden ist. Aus jeder Zafón-Zeile riecht der Moder, der Verfall, der Abfall. Den Stadtplan Barcelonas hat der Autor im Kopf, seit er als Kind für seinen Vater Versicherungspolicen an die Kundschaft austrug. Er wuchs in Laufnähe des sagenumwobenen Sakralbaus "Sagrada Família" von Antoni Gaudí auf und kennt auch dort jeden finstren Winkel. In einer Variation meint man die Kirche auch im Roman "Der dunkle Wächter" wiederzuerkennen, wo sie unter dem schauerlichen Namen Cravenmoore als sonderbares, viel zu riesiges Zuhause des Spielzeugerfinders Lazarus Jann die verwitwete Hauswirtschafterin Simone Sauvelle und ihre beiden halbwüchsigen Kinder Irene und Dorian in Furcht und Schrecken versetzt.

Spätestens seit Sartres Bekenntnis, er lese lieber Kriminalromane als Wittgenstein, braucht auch der kulturbeflissenste Leser eine Neigung zu spannender Unterhaltungsliteratur nicht mehr zu verbergen. Umso weniger, als Carlos Ruiz Zafón manchen Thrill seiner schönen Schauergeschichten aus dem ehrwürdigen und allzeit bedrohten Gedächtnis der Welt bezieht: aus Büchern. Ihre Geheimnisse, ihre Erfinder und Bewahrer spielen in Zafóns verschattetem Erfindungskosmos die Hauptrolle. Auch die gruselig-subtile (Liebes-)Geschichte aus "Der Schatten des Windes" erzählt in kunstvoll verzwirbelten Erzählsträngen von einem Buchhändlersohn: Eines sehr frühen Morgens, noch vor der Dämmerung, wird Daniel von seinem Vater auf den "Friedhof der vergessenen Bücher" in Barcelona geführt (eine der schönsten literarischen Ortserfindungen überhaupt!), von dem er sich den allerletzten Band eines Romans des ominösen Schriftstellers Julián Carax mit nach Hause nimmt. Gefahrvolle Verwicklungen rund um dieses Werk halten den Leser über Hunderte von Seiten in Atem, Daniels Liebesbeben um die blinde Clara inbegriffen. "Literaturliteratur" nennt der strenge Literaturkritiker und bekennende Zafón-Fan Dennis Scheck die spannende, süffige Prosa des Carlos Ruiz Zafón. Vorzugsweise die lesenden Damen dieser Welt schlürfen sie weg wie sonst nur ihren Baileys. Damit sei nichts gegen Damen gesagt, aber die machen bei Zafóns Lesungen nachweislich vier Fünftel des Publikums aus.

Warum tut sich ein Buchmillionär wie Carlos Ruiz Zafón die Strapazen einer Interkontinentalreise an und liest, wie diesmal, vor ein paar Hundert Leuten aus München, Hamburg und Amsterdam, ehe er wieder nach Los Angeles zurückreist? Von Zeit zu Zeit sieht er die Leser gern, vor allem aber zieht es ihn in die Städte Europas. "Ich interessiere mich unheimlich für die Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts", erzählt der Autor. "Schauen Sie, als ich das letzte Mal in Hamburg war, gab es auf dem Weg zur Lesung einen Verkehrsstau. Ich fragte den Taxifahrer, was los sei. 'Sie haben bei Bauarbeiten eine Bombe aus dem Zweiten Weltkrieg gefunden', sagte er mir. So präsent ist die Geschichte dort! Wir erleben manchmal ähnliche Sachen, die auf den spanischen Bürgerkrieg zurückgehen. Aber das ist nicht vergleichbar." Vielleicht fehlt dem Dichter in der Geschichtsarmut der USA manchmal auch nur der Geruch der Historie, der den dafür Empfänglichen in der Alten Welt unweigerlich in die Nase steigt, auch wenn man ihn am liebsten vergessen machen würde: "Als ich aufwuchs, wollte in Barcelona niemand über den Krieg reden. Aber die Erinnerung daran konnte man in den Steinen spüren, sie lag in der Luft. Ich habe kein irgendwie morbides Interesse an der Vergangenheit. Aber wir sind das, woran wir uns erinnern. Und Städte sind Widerspiegelungen dessen, wer wir sind. Sie sind organische Lebewesen, und sie lehren uns etwas, noch da, wo etwas verloren gegangen ist."

Von Jorge Luis Borges stammt das Bonmot, er verdanke seinen Ruhm nicht den Büchern, die er geschrieben, sondern denen, die er gelesen habe. In diesem Sinne sieht sich auch Zafón als gereiftes und weiter reifendes Produkt seiner Lesefrüchte von Balzac, Dickens und Dostojewski bis zu den Science-Fiction-Autoren der jüngeren Zeit. "Aber ich lese querbeet und vorurteilsfrei, wozu ich Lust habe", sagt Zafón. "Und aus schlechten Büchern lässt sich viel besser lernen als aus Meisterwerken!" So untrennbar unser Bild des Autors Zafón mit zimmerhohen Regalwänden voller Bücher zusammengehört: Neben dem Lesen waren es vor allem Filme, insbesondere von amerikanischen Regisseuren wie Francis Ford Coppola, an denen sich seine eigene Fantasie entzündete.

Am 17. November las Carlos Ruiz Zafón auf Kampnagel für seine Fans ein paar Absätze aus " Der dunkle Wächter" - in seiner Muttersprache. So viel Heimat muss sein: "Wenn ich schreibe, dann auf Spanisch", schnurrt Zafón in flüssigstem Englisch.