Hans Fallada schildert das Scheitern einer Resozialisierung in den 1920er-Jahren. Matthias Gretzschel über den Roman, der zwischen Jungfernstieg und Gängeviertel, Reeperbahn und Gefängnis spielt.

Die letzten Tage vor seiner Entlassung erlebt der Häftling Willi Kufalt in banger Erwartung. Was wird ihm das Leben in Freiheit bringen? Wird er Geld verdienen, auf eigenen Füßen stehen und sich eine neue Existenz aufbauen können oder doch wieder scheitern? Fünf Jahre lang hat er im Gefängnis einer norddeutschen Kleinstadt zugebracht, hat sich an die Regeln und Hierarchien angepasst, seinen Platz gefunden und dabei fast so etwas wie Zufriedenheit gespürt. Sein Mithäftling Batzke, ebenfalls kurz vor der Entlassung, schwärmt von seinen Hamburger Verbindungen, behauptet, eine Reederswitwe vom Harvestehuder Weg zu kennen, die ihm hörig sei und ihn aushalten würde. Auch Kufalt will nach Hamburg gehen, in der großen Hafenstadt ein neues Leben beginnen.

"Wir treffen uns um acht auf dem Rathausmarkt unterm Pferdeschwanz", schlägt Batzke vor. Als Kufalt damit nichts anzufangen weiß, klärt Batzke ihn auf: "Da ist ein Denkmal von Kaiser Wilhelm auf dem Rathausmarkt, da reitet er. Unterm Pferdeschwanz, weiß jeder in Hamburg." Hans Fallada, der das am Anfang seines Romans "Wer einmal aus dem Blechnapf frisst" schildert, hat den Alltag eines Strafgefangenen in den 20er-Jahren des 20. Jahrhunderts selbst erlebt.

Als Sohn eines Juristen, der es bis zum Richter am Reichsgericht in Leipzig schaffte, wird Fallada, der eigentlich Rudolf Wilhelm Friedrich Ditzen heißt, 1893 in Greifswald geboren. Das familiäre Leben ist unglücklich, das Verhältnis zum autoritären Vater gestört. Fallada gilt als Sorgenkind, ist häufig krank, hat Schulprobleme und erfüllt in keiner Weise die Erwartungen, die die Familie mit ihm verknüpft. Mit Geld, das er vom Vater gestohlen hat, flieht er für kurze Zeit nach Hamburg. Er schafft keinen Schulabschluss, wird alkohol- und drogensüchtig und zeitweise in die Psychiatrie eingewiesen. Die kriminelle Karriere ist vorgezeichnet: Um sich Drogen zu beschaffen, unterschlägt Fallada Geld, wird verhaftet, verurteilt und 1925 für zweieinhalb Jahre inhaftiert.

Wie seine Romanfigur Willi Kufalt geht Hans Fallada nach der Haftentlassung nach Hamburg, wo er sich mit Gelegenheitsjobs mehr schlecht als recht durchschlägt. In Hamburg lernt er 1928 auch Anna Dissel kennen, die er im Jahr darauf heiratet. Zu dieser Zeit hat er bereits einigermaßen Fuß gefasst und Arbeit als "Adressenwerber" und Lokalredakteur beim "Generalanzeiger" in Neumünster gefunden.

Doch auf Dauer ist die Provinz nichts für ihn, 1930 wechselt der literarisch begabte Ex-Sträfling nach Berlin zum Ernst Rowohlt Verlag, wo sein schriftstellerischer Erfolg beginnt: 1931 erscheint der Roman "Bauern, Bonzen und Bomben" und ein Jahr darauf "Kleiner Mann, was nun?", ein Buch, das sofort zum Bestseller wird. Aus dem Versager Rudolf Ditzen ist der Erfolgsautor Hans Fallada geworden, Er fühlt sich wie Hans im Glück, entlehnt den Nachnamen seines Pseudonyms dem sprechenden Pferd aus einem Grimm-Märchen. Vom Honorar seines Erfolgsromans kauft er sich 1933 im mecklenburgischen Carwitz ein Anwesen, wo er mit seiner Familie zur Ruhe kommen will. Dort beendet Fallada seinen "Blechnapf"-Roman, der 1934 erscheint. Es ist die grandios erzählte Geschichte eines Scheiterns: Kufalt gelingt es nicht, ein neues Leben zu beginnen. Die Knast-Vergangenheit haftet ihm an, die bürgerliche Gesellschaft gibt ihm keine Chance, Ruhe findet er schließlich dort, wo er hergekommen ist: im Zuchthaus.

Da Fallada ahnt, dass die Nazis, die inzwischen an der Macht sind, die realistischen Schilderungen der sozialen Abgründe ablehnen werden, schreibt er im Vorwort vorsichtshalber, dass sich die Zustände unter den neuen Machthabern verbessert hätten. Nützen wird es ihm nicht, die Nazi-Zeitungen verreißen das Buch und diffamieren es als "Zuchthauspornografie".

Fallada gibt sich nun unpolitisch, schreibt Unterhaltungsliteratur, versucht möglichst unauffällig zu sein. 1944 scheitert seine Ehe. Es wird immer schwerer für ihn, seine Sucht zu beherrschen. Er kommt zeitweise in eine psychiatrische Anstalt.

Nach Kriegsende erfährt Hans Fallada noch einmal Anerkennung. Er heiratet ein zweites Mal und wird kurzzeitig Bürgermeister von Feldberg. Im Jahr 1947 erscheint "Jeder stirbt für sich allein", Falladas Abrechnung mit dem Nazi-Regime. Doch da ist der Autorbereits gesundheitlich am Ende. AlsLiterat genießt er Ansehen, als Mensch ist er gescheitert - genau wie Willi Kufalt, der Held eines seiner bedeutendsten Romane.