30 Jahre war die kleine Imbissbude am Großneumarkt berühmt für die braunroten Fleischstückchen. Karolin Jacquemain über eine verblüffende Liebesgeschichte, ohne die es die Currywurst so nicht geben würde.

Ein eigenes Museum, der Schlager von Herbert Grönemeyer, Gerhard Schröders rustikale Leibspeise - die Currywurst hat es im Lauf der Jahr(zehnt)e zu einiger Berühmtheit gebracht. Das schönste Denkmal aber hat ihr 1993 der in Hamburg geborene Schriftsteller Uwe Timm gesetzt mit seiner Novelle "Die Entdeckung der Currywurst". Das Werk ist Kanonliteratur, Schullektüre und für die Leinwand adaptiert. Es erzählt eine Liebesgeschichte, die 1945 in Hamburg beginnt - und endet. Darin eingebettet ist jenes Rezept für die süßlich-scharfen Wurststücke, um dessen Entstehung sich Mythen ranken. Die meisten reklamieren dafür das Berlin der späten 50er-Jahre, Timms Ich-Erzähler bringt stets Hamburg, Frau Brücker und ein früheres Datum ins Gespräch - seine Kindheitserinnerung. Und wer würde ihm, nachdem er das Buch gelesen und Bekanntschaft mit der Kantinenangestellten Lena Brücker gemacht hat, nicht Glauben schenken wollen.

Sieben Nachmittage fährt der Erzähler ins Harburger Altenheim, wo er die sehschwache, aber geistig fitte Lena Brücker besucht, um zu ergründen: Wie kam der Curry zu der Wurst. Was er aber bei Käsesahnetorte erfährt, ist vielmehr die Geschichte einer einzigartigen Begegnung, die innerhalb von 27 Tagen das Leben zweier Menschen auf den Kopf stellt. "Es geht ja nicht so sehr um die Currywurst. Es ist ja eigentlich eine Liebesgeschichte", sagt Uwe Timm. Für seine Kinder, erzählte er vor vielen Jahren in einem Interview, bereite er gern ab und an eine Currywurst zu. Löst die Zunge, schärft den Blick, behauptet Lena Brücker.

Die Mittvierzigerin und der viel jüngere Marinesoldat Hermann Bremer lernen sich an einem Sonntag im April 1945 kennen, ganz unromantisch beim Schlangestehen vor Knopfs Lichtspielhaus am Spielbudenplatz. Ein Bombenangriff verhindert den Kinobesuch, sie landen schutzsuchend in Lena Brückers Küche, trinken Birnenschnaps, und irgendwann, im Schlafzimmer, sagt sie den verhängnisvollen Satz, mehr vor sich hingeträumt als ernst gemeint: "Du kannst, wenn du willst, auch ganz hier bleiben." Und so wird Bremer fahnenflüchtig - aus Angst, wieder an die Front zu gehen und weil ihm das Leben eine ungeahnte Perspektive eröffnet hat: "Wenn er sich genau prüfte, war es ja nicht nur die Angst vor den Panzern, vor den Engländern gewesen, sondern er war geblieben, weil ihm an jenem verregneten kalten Hamburger Morgen, neben Lena liegend, die Hand auf ihrem warmen weichen Brustkissen, der Gedanke, aufzustehen, in ein nasskaltes Erdloch zu steigen und sich totschießen zu lassen, so ganz und gar abwegig, ja pervers erschienen war."

Mit einem Mal gibt es jemanden, der Lena in den Arm nimmt, wenn sie von der Arbeit nach Hause kommt, der die Küche putzt und sie auf das "Matratzenfloß" zieht, auf dem man stundenlang reden und rauchen und die Welt außen vor lassen kann. "Man wird alt, aber mit dem Bremer habe ich das vergessen", sagt sie. Plötzlich ist der Krieg vorbei, Hamburg hat kapituliert. Aber das verschweigt Lena, der "Schleswig-Holsteiner Dickkopf", dem Mann in ihrer Wohnung. Anders gesagt: Sie vergisst es, wie man Dinge vergisst, die man nicht wahrhaben will. Und Bremer schlägt weiterhin imaginäre Schlachten und dichtet Durchhalteparolen.

Elegant verwebt Timm die beiden Zeitebenen ineinander, die Rahmenhandlung im Altenheim und die Schilderungen der letzten Kriegswochen. Die spannende Fragestellung, wann (und wie) die Wahrheit ans Licht kommt kontrastiert er durch die rührende Begegnung in der Gegenwart, während der sich Lena Brücker, strickenderweise und in Hamburger Mundart, erinnert. Manchmal verbinden sich die Ebenen aufs Schönste, etwa wenn Bremer "tosca" schwärmt, wenn er etwas besonders Leckeres aufgetischt bekommt. Und "tosca" sagt Lena Brücker im Altenheim, als sie sich ein Goudastück in den Mund schiebt. Manches bleibt, und sei es nur ein Wort.

Und die Wurst? Ist eher zufällig entstanden, als Brücker sich verwürzt hat mit dem "bitteren Kuddelmuddel". Gemeinsam stehen sie irgendwann am Großneumarkt, der Ich-Erzähler und die alte Frau, wo 30 Jahre lang ihre Bretterbude stand. Wo man die Elbe riechen und das metallische Dröhnen von den Werften und den Schiffsirenen hören kann. Und wo sonst als an dieser Imbissbude soll der Siegeszug der Currywurst begonnen haben, die eng mit dem grauen Hamburger Himmel verbunden ist, dessen Gegensatz im Schmecken das Rotbraun ist.

Uwe Timm wurde 1940 in Hamburg geboren. Er studierte Philosophie und Germanistik in München und Paris. Seit 1971 lebt er als freier Schriftsteller in München. Weitere Werke u. a.: "Heißer Sommer" (1974), "Der Mann auf dem Hochrad" (1984), "Rennschwein Rudi Rüssel" (1989), "Am Beispiel meines Bruders" (2003), "Halbschatten" (2008).