Regisseurin Margarethe von Trotta (67) über ihren Film “Vision - Aus dem Leben der Hildegard von Bingen“ und die revolutionäre Karriere einer Nonne im Mittelalter.

Mit welcher Ihrer Filmheldinnen würden Sie Hildegard von Bingen am ehesten vergleichen?

Margarethe von Trotta:

Mit Rosa Luxemburg.

Übereinstimmender Vergleich: Eine Frau tut in einer Männerwelt, was nie zuvor eine Frau getan hat.

Von Trotta:

Und zweiter übereinstimmender Vergleich: Sie setzen sich selbstlos für andere ein. Rosa Luxemburg hat für eine gerechtere Welt gekämpft und dabei ihr Leben verloren. Hildegard von Bingen lebt für Gott, aber auch für die Menschen, indem sie gegen Korruption in der Kirche und Bereicherung der Kleriker angeht. "Gib die Habgier auf!", mahnt sie Kaiser Barbarossa, "die Zeiten haben sich verdunkelt von den Ränken der vielen." Das lässt sich eins zu eins in die Gegenwart übernehmen. Was die Rosa immer verstört hat, war, dass ihre Genossen Dinge forderten, die sie selbst nicht einhielten. Genau den gleichen Anspruch stellt Hildegard an ihre Klosterbrüder.

Weltverbesserer fragen sich, ob sie von innen oder von außen auf das System einwirken sollen. Hildegard weiß das System Kirche zu ihrem Vorteil zu nutzen, sie benimmt sich wie eine Machtpolitikerin ...

Von Trotta:

... wie eine Karrieristin. Auch. Aber nicht durchgehend. Sie tut es, weil sie wirklich daran glaubt, von Gott beauftragt worden zu sein. Deshalb setzt sie durch, dass sie ihr eigenes Kloster bauen darf. Und wo? In Disibodenberg, weitab vom Schuss? Nein, sie will an den Rhein, wo die ganzen Pilger und Kaufleute vorbeikommen. So kommt sie an das Wissen ihrer Zeit heran. Sie wollte Wissen, nicht nur Heilwissen, sondern auch über die neusten wissenschaftlichen Errungenschaften.

Hat die Kirche Frauen damals nicht die Fähigkeit abgesprochen, theologisch denken zu können?

Von Trotta:

Absolut. Alles, was mit Denken oder In-die-Welt-Hineinwirken zu tun hatte, war den Frauen untersagt. Der Apostel Paulus verbot den Frauen, in der Kirche zu sprechen. Der Ausweg für Hildegard waren Visionen.

Was hat Ihnen die religiöse Seite der Hildegard von Bingen gesagt?

Von Trotta:

Das ist ja das Spannende an der Zeit, dass Religiöses und Weltliches nicht auseinanderzudividieren waren. Wissen und Glauben bildeten eine Einheit, was uns heute völlig unverständlich ist. Alles, was man an Wissen hinzuerwarb, stammte von Gott, und man hat es eingesetzt für Gott. Ich habe das auch gar nicht hinterfragt, sondern eins zu eins dargestellt. Wer weiß, vielleicht erhalten wirklich Menschen Aufträge von Gott. Ich bin nicht so gläubig, aber ich habe trotzdem nicht das Recht zu behaupten, Visionen existierten nicht.

Wenn ich Ihnen zu Beginn Ihrer Regielaufbahn vor 30 Jahren prophezeit hätte, Sie würden einmal einen Film über eine katholische Heilige drehen - hätten Sie mich für verrückt erklärt?

Von Trotta:

Der Vatikan hat Hildegard nie heiliggesprochen, sie ist eine Volksheilige. Davon abgesehen: Es wäre mir nicht in den Sinn gekommen. Ich war jünger, rebellischer und habe mich für das Hier und Jetzt interessiert. Wir haben alle daran geglaubt, dass man die Gesellschaft, wenn man nur genug kämpft, verändern kann. Daran glaube ich heute nicht mehr.

Wirklich?

Von Trotta:

Das heißt nicht, dass ich Engagement ablehne. Ich bin nur nicht mehr so optimistisch, dass man dadurch etwas bewegt.

Und trotzdem legen Sie Hildegard den "Gier-verdirbt-uns"-Appell in den Mund.

Von Trotta:

Natürlich sucht man sich bei seinen Figuren die aktuellen Bezüge heraus. Bei Rosa Luxemburg habe ich, kurz nach der Nachrüstungsdebatte, ihre Kriegsgegnerschaft mehr herausgearbeitet, als das ein anderer getan hätte.

Warum sind wir heute so gierig?

Von Trotta:

Ich glaube, es hat damit zu tun, dass wir immer mehr zur Überzeugung gelangen, dass nur dieses eine Leben zählt, dass danach nichts mehr kommt. Nach dieser Logik können wir uns auch keine gute Zukunft im Himmel mehr verdienen, indem wir gute Werke tun. Es ist wie bei der wunderbaren Erzählung von Tolstoi "Wie viel Erde braucht der Mensch?". Einem Bauern wird versprochen, er bekomme so viel Land geschenkt, wie er von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang umrunden könne. Er läuft und läuft und kommt just vor Sonnenuntergang wieder am Ausgangspunkt an - nur um vor Anstrengung tot umzufallen. Er wird ins Grab gelegt und mit Erde bedeckt: So viel Erde braucht der Mensch.