Die Nonne Hildegard von Bingen war ein Kind des Mittelalters - und doch ihrer Zeit weit voraus. In einer von Männern dominierten Umgebung gelang ihr eine beispiellose Karriere. Matthias Gretzschel über eine starke Frau aus dem 12. Jahrhundert, deren Lebensgeschichte morgen in die Kinos kommt.

Welche Perspektiven eröffnen sich einem Mädchen, das im Hochmittelalter als zehntes Kind einer adeligen Familie geboren wird? Eine gute Ausbildung? Ein Leben in solidem Wohlstand? Eine standesgemäße Heirat?

Für Hildegard von Bingen, die wahrscheinlich im Sommer des Jahres 1098 in Bermersheim bei Alzey in Rheinhessen zur Welt kommt, trifft nichts davon zu: Als zehntes Kind, so entscheidet es ihr Vater Hildepert in strenger Auslegung eines alttestamentlichen Abgaben-Gebots, soll sie ihr Leben in Gebet und Arbeit Gott allein widmen. Ein demütiges Leben hinter Klostermauern scheint vorgezeichnet.

Tatsächlich wird Hildegard ihr Leben lang beten und arbeiten, aber sie führt dennoch kein einsames Leben hinter Klostermauern, sondern macht eine Karriere wie keine andere Frau des deutschen Mittelalters - schon zu Lebzeiten und erst recht postum: Sie lehrt den klerikalen Männerklub ihrer Zeit das Fürchten, legt sich mit mächtigen Äbten an, korrespondiert mit dem Papst, weist Bischöfe in die Schranken, macht sich aber auch als Biologin und Medizinerin einen Namen. Sie dichtet, komponiert, forscht, predigt und erreicht dabei eine Popularität, die bis heute ungebrochen ist. Theologen, Kirchen-, Literatur- und Kunsthistoriker, Mediziner, aber auch Esoteriker sind fasziniert von dieser Frau, die sich ungeachtet der Enge des mittelalterlichen Lebens ungeahnte Freiheiten nimmt, aber dabei doch als große Mystikerin ganz Kind ihrer Zeit geblieben ist. Jetzt gibt Barbara Sukowa der historischen Figur in Margarethe von Trottas Film-Biografie "Vision", die morgen in die Kinos kommt, ein neues Gesicht.

Aber wie hat es diese bemerkenswerte Frau geschafft, die Schranken ihrer Zeit so souverän und mit so lang anhaltendem Erfolg zu überschreiten? Sie selbst hat stets jedes Verdienst von sich gewiesen, hat sich als ungebildet, als "armseliges Weibsbild" bezeichnet und immer auf die göttliche Gnade verwiesen. Ihr Wissen kommt nicht aus eigener Bildung, alles ist himmlische Offenbarung. Hildegard hat Visionen, sie sieht Dinge, die die andere nicht wahrnehmen können, sie hat Erscheinungen, gegen die sie sich zunächst zu wehren versucht. Das macht sie ratlos und verwirrt, bis sie im Jahr 1141 die neue Rolle für ihr Leben akzeptiert und damit ihre Bestimmung findet. Später wird sie in ihrem Hauptwerk "Liber Scivias Domini" (Wisse die Wege des Herrn) die entscheidende Vision so beschreiben: "Und wieder vernahm ich eine Stimme vom Himmel, und sie sprach zu mir: Erhebe deine Stimme und schreibe also!"

Hildegard, die damals Anfang 40 ist, wird es wohl tatsächlich so empfunden haben, zugleich ist die Berufung auf göttliche Visionen für sie die einzige Möglichkeit, sich als Frau in der Gesellschaft ihrer Zeit überhaupt zu Wort melden zu können. Eine gebildete, eine gut ausgebildete Frau, eine Intellektuelle, eine Gelehrte wäre im Corpus Christianum, dem christlich geprägten mittelalterlichen Staat, niemals akzeptiert worden, aber ein weibliches Werkzeug Gottes, das müssen selbst die mächtigsten Kirchenfürsten zähneknirschend akzeptieren.

Natürlich genießt Hildegard von Bingen trotzdem eine Ausbildung, und zwar im Benediktinerkloster Disibodenberg, in das sie am 1. November 1122 eintritt. Hildegard gewinnt offenbar schnell Profil, sie versteht mit Menschen umzugehen, hat Charisma, 1136 wählen die Schülerinnen sie zur Oberin.

Aufgrund der Visionen wächst ihr Einfluss. Vorsichtshalber hat sie sich bei Bernhard, dem einflussreichen Abt des Zisterzienserklosters von Clairvaux, rückversichert. "Wir freuen uns mit dir über die Gnade Gottes, die in dir ist. Und was uns angeht, so ermahnen und beschwören wir dich, sie als Gnade zu erachten und ihr mit der ganzen Liebeskraft der Demut und Hingabe zu entsprechen", schreibt der prominente Mönch an Hildegard, die ihre Visionen von nun in Latein schriftlich wiederzugeben beginnt. Zu dieser Zeit hat sie schon einen Schreiber und eine Sekretärin.

Nachdem Papst Eugen III. ihr 1147 schließlich auch noch die Erlaubnis erteilt, ihre Visionen zu veröffentlichen, wird Hildegard endgültig zur theologischen Autorität. Und nicht nur das. Obwohl sie sich mit der Göttlichkeit der Natur und mit der Schöpfungsordnung befasst, geht es ihr keineswegs nur um Gott, sondern auch um die Welt, mit der es ihrer Meinung nach nicht zum Besten steht. Als sie Mitte des 12. Jahrhunderts auf dem Rupertsberg am Ufer der Nahe ihr eigenes Kloster gründet, ist sie eine Berühmtheit. Immer wieder verlässt sie die Abtei, reist durch das Rheinland und durch Süddeutschland, wo sie nicht nur in Klöstern, sondern auch auf Marktplätzen predigt und dabei die Sittenlosigkeit des Klerus heftig kritisiert. Sie trifft den Nerv ihrer Zeit, spricht eine Sprache, die die Menschen verstehen - kein Wunder, dass sie gefeiert wird und uns heute wohl wie ein Popstar erscheinen würde. In allen möglichen Angelegenheiten suchen Menschen ihren Rat, denn längst gilt die oft von Krankheiten gepeinigte Nonne auch als Medizinerin und Biologin als eine in allen Lebensfragen kundige Kapazität.

Als Hildegard von Bingen am 17. September 1179 stirbt, ist sie 81 Jahre alt und eine der berühmtesten Persönlichkeiten ihrer Zeit. Dass das offizielle Heiligsprechungsverfahren immer wieder an Kompetenzstreitigkeiten scheitert, stört ihre Anhänger nicht, die sie schon zu Lebzeiten als Heilige verehrten.

Sie hat Schriften hinterlassen, die auch nach mehr als 800 Jahren noch frisch und lebendig wirken. Unglaublich, wie freimütig sie sich zum Beispiel über Sexualität geäußert hat und die Gleichwertigkeit von Mann und Frau als göttlichen Willen postuliert. In der alternativen Medizin bewundert man den ganzheitlichen Ansatz ihrer Heilmethoden. Ist die Frau, die sich über das von Paulus im Korintherbrief postulierte weibliche Schweigegebot so souverän hinwegsetzt, die erste Frauenrechtlerin der Geschichte, eine mittelalterliche Revolutionärin? Nein, denn niemals hat sie den Bezugsrahmen des mittelalterlichen Denkens, die Dualität von Gut und Böse, von Gott und Welt, verlassen, ihn aber auf atemberaubende Weise ausgelotet und interpretiert.

Der britische Neurologe und Schriftsteller Oliver Sacks meint, bei Hildegards Visionen handle es sich nur um die halluzinatorischen Begleitumstände einer schweren Migräne. Ob diese nüchterne Diagnose tatsächlich ausreicht, das Phänomen Hildegard von Bingen zu erklären, darf getrost bezweifelt werden.