Schriftsteller Siegfried Lenz spricht im Abendblatt über seine Helden, seine Landschaften und die ewige Frage, warum Menschen scheitern.

Siegfried Lenz schreibt zurzeit an seiner neuen Novelle "Landesbühne", die im Oktober erscheinen soll. Lenz, der Hamburger Ehrenbürger ist und bis auf den Georg-Büchner-Preis alle bedeutenden literarischen Ehrungen bekommen hat, ist derzeit der erfolgreichste deutsche Autor. 400 000 Exemplare seines Romans "Schweigeminute" setzte der Handel im vergangenen Jahr ab. Das ist mehr, als Martin Walser, Günther Grass und Christa Wolf 2008 zusammen verkauft haben. Das Buch wurde in 24 Sprachen übersetzt.

Hamburger Abendblatt: Sie haben fast alle bedeutenden Ehrungen erhalten, die man als Autor bekommen kann, aber auch ein paar eigenartige wie Ehren-Schleusenwärter in Hamburg oder Ehren-Konditor. Ziehen Sie solche Ehrungen vielleicht an?

Siegfried Lenz: Zur dänischen Konditor-Ehre bin ich gekommen, weil ich in einer Fernsehsendung einmal gefragt worden bin, ob ich eine Ehrung vermisse. Da habe ich geantwortet: Ja. Ich möchte gerne Ehren-Konditor der dänischen Konditoren-Gesellschaft werden.



Abendblatt: Mögen Sie Süßes?


Lenz: Nein.


Abendblatt: Natur spielt in Ihrem Werk eine große Rolle, unberührte Landschaft, Schnee, Flüsse. Das Denken und Fühlen Ihrer Figuren wird oft diesen Landschaften angepasst. Sie bleiben dabei relativ emotionsfrei. Versetzt man so die Leser in eine kontemplative Stimmung, bei der sie sich ein eigenes Bild des Geschilderten machen können?


Lenz: Ich habe lange am Wasser gelebt und gemerkt, in welcher Weise die Menschen dort durch die Landschaft geprägt werden. Ihre Sprache, allein ihr Dastehen, gekrümmt unter dem Wind. Sie gehen nicht aufrecht. Ich glaube, das verstehen die Leser dann.


Abendblatt: Welche Rolle spielt Dänemark in Ihrem Schreiben?


Lenz: Ich habe 30 Sommer in Dänemark verbracht. Anfangs gab es Vorbehalte gegenüber Deutschen, später haben unsere Freunde mir zu Ehren sogar deutsch gesprochen.


Abendblatt: Aber Sie sprechen doch gut Dänisch.


Lenz: Ja, sicher. Ich hatte das große Glück, dass meine Frau eine innig geliebte Freundin hatte, Ulla. Sie hat mich nach dem Tod meiner Frau und den Operationen, die ich dann hatte, in gewisser Weise gerettet. Ulla hat einen sehr schönen Besitz in Dänemark. Wir sind oft dort.


Abendblatt: Für Sie ist Schreiben der Versuch zu verstehen. Wodurch entsteht Verstehen? Dadurch, dass Sie sich in Ihre Figuren hineindenken?


Lenz: Das Verstehen entsteht durch Selbstversetzung. Nach Möglichkeit sollte man von sich absehen und versuchen auf das einzugehen, was der Konflikt einer erfundenen Person beibringt. So kann man mithilfe von Fiktion leben lernen. Man schreibt etwas, bringt sich selbst ein und versteht etwas anderes.


Abendblatt: Sie haben viel über körperliche Herausforderungen geschrieben, über Männer, die an ihre Grenzen gehen.


Lenz: Vor langer Zeit habe ich ein Stück über einen Langstreckenläufer geschrieben, "Brot und Spiele". Mich hat dabei die Frage interessiert, warum der Mann läuft. Ganz symbolisch, mythisch. Man läuft, weil man eine Beute verfolgt oder weil man flieht. Der Lauf ist eine Manifestation der Flucht. Ich habe mir vorzustellen versucht, was man fühlt und denkt, wenn man 10 000 Meter läuft. Was bleibt übrig zu denken? Im übertragenen Sinne ist es der Lauf ums Leben.


Abendblatt: Sie haben fast ausschließlich über Männerfiguren geschrieben. Männer, die etwas mit anderen Männern verhandeln, Lehrer/Schüler, Vater/Sohn. Wieso so viele Männer?


Lenz: Ich brauchte Figuren mit Gegenfiguren. Natürlich können Frauen Gegenfiguren sein. Aber ich wählte Männer, weil sie einander auch erkennbar machen. Sie agieren auf ähnlicher Erlebnis- und Denkebene. Als Schriftsteller hat man die Wahl. Wenn ich mehr über Frauen weiß, ist es nicht ausgeschlossen, dass ich eines Tages ... (lacht). Aber meine letzte Novelle, 'Die Schweigeminute' hatte doch eine Frau zur Heldin.


Abendblatt: Was war da los?


Lenz: Ja, das hat mich Marcel Reich-Ranicki auch gefragt.


Abendblatt: Die "Schweigeminute" hat sich in Deutschland 400 000-mal verkauft und ist in 24 Sprachen übersetzt worden. Haben Sie eines Ihrer Bücher als Lieblingsbuch?


Lenz: Ja. Die "Landesbühne".


Abendblatt: Also das Buch, an dem Sie gerade arbeiten?


Lenz: Ja. Mich beschäftigt immer das Buch, an dem ich arbeite, am meisten. Man kann sich in die Irre begeben, verlaufen, man weiß nicht genau, wie es weitergehen soll, ob es glaubwürdig ist. Hier wird das Thema sein - und ich kann es nur sehr verschlüsselt wiedergeben -, dass man von der Öffentlichkeit für etwas gehalten wird, was man nicht ist.


Abendblatt: Sie haben so viele Geschichten geschrieben, erinnern Sie sich noch an jede?


Lenz: Nein.


Abendblatt: Sie sagen, Sie schreiben langsam, es macht Ihnen Mühe. Bemerken Sie dabei einen Unterschied zwischen ihren jungen und den alten Jahren?


Lenz: Ja. Es wird im Alter schwerer. Weniger die Selbstversetzung als das Konkretisieren von Sachverhalten. Wenn ich ein neues Kapitel geschrieben habe, bitte ich meine Freundin Ulla Reimer, es zu lesen. Meine Standardfrage an sie ist dann: "Ulla, siehst du es?" Ich fürchte manchmal, dass ich zu abstrakt denke. Das Umsetzen in die Bildhaftigkeit, die Sinnlichkeit bereitet mir im Alter mehr Schwierigkeiten.


Abendblatt: Ihr Stil war aber schon immer ein reduzierter, sehr präziser. Die Emotionen sollten die Leser selbst nachfühlen.


Lenz: Man betraut beim Schreiben eine erfundene Person, das zu zeigen und glaubhaft zu vertreten, was man ihr als intellektuelle Mitgift auf den Weg gibt, was für eine Haltung, Idee in ihr steckt, und das dann über 200, 400 oder gar 600 Seiten durchzuhalten. Das ist die Kunst.


Abendblatt: Verwerfen Sie vieles, was Sie geschrieben haben?


Lenz: O ja. Soll ich Ihnen mal die Berge zeigen? Ich hoffe, die sind noch da.


Abendblatt: Schreiben Sie erst dann, wenn Sie genau wissen, wie es gehen soll, oder schreiben Sie drauflos?


Lenz: Das Vordenken ist entscheidend. Ich mache mir ein paar Notizen über die Charakterisierung der Personen. Sie müssen ja in Übereinstimmung mit ihrer psychologischen Konzeption handeln. Aber das betrifft jedes Schreiben. Natürlich denke ich immer voraus. Man schreibt immer. Wirklich immer.


Abendblatt: Haben Sie feste Regeln, Uhrzeiten beim Schreiben?


Lenz: Als ich nach meiner Studentenzeit anfing, als freier Autor zu schreiben, hab ich mir als haushälterischer Masure gesagt: "Das wird nur etwas, wenn du Disziplin aufbringst." Ich arbeite sehr gern am Morgen und dann am Nachmittag noch einmal zwei, drei Stunden.


Abendblatt: Sie sind derzeit der erfolgreichste deutsche Schriftsteller und haben mehr verkauft als Martin Walser, Günther Grass und Christa Wolf zusammen.


Lenz: Soll ich protestieren?


Abendblatt: Nein. Aber bereitet Ihnen das besondere Freude oder Befriedigung?


Lenz: Nein. Ich schreibe einfach weiter. Schreiben ist "work in progress". Die definitive Genugtuung über das, was ich getan habe, wird später erfolgen. Oder, wie Albert Camus gesagt hat: "Man muss sein Leben rechtfertigen." Irgendwann im Alter wird sich eine Legitimation zeigen, wenn du das vorgelegt hast, was du glaubst, präsentieren zu können.


Abendblatt: Sind Sie da mit sich im Reinen?


Lenz: Noch nicht.


Abendblatt: Sind Sie fleißig oder eher beharrlich?


Lenz: Ulla, bin ich fleißig? (aus dem Hintergrund kommt: Sehr!)


Abendblatt: Verändert Schreiben die Wahrnehmung?


Lenz: Ja. Man reagiert permanent auf das, was man sieht, erfährt, was einem zugetragen wird. Ich bemerke an mir selbst, dass ich permanent arbeite, weil ich versuche, dem, was ich erfahre, eine Fassung zu geben.


Abendblatt: Sie wirken wie ein besonnener, ausgeglichener Mann. Ihre Helden sind häufig Gescheiterte, Menschen, die in Gefahr schweben oder das Glück nicht genießen können. Wie kommen Sie zu diesen Helden?


Lenz: Es ist ein prinzipielles Interesse an der Welt, die den Menschen einiges aufträgt. Ich habe so viele strahlende Entwürfe und großartige Pläne erlebt, die alle nicht das brachten, was der Urheber sich erträumt hatte. Woran liegt es, dass wir vom Schicksal widerlegt werden? Der uns allen im Leben eingebaute Widerstand, der von außen kommt, wo kommt der her? Wo sind die Ursachen des Scheiterns? Das Glück versteht sich von selbst. Aber woran liegt es, dass unsere Entwürfe fragwürdig werden?


Abendblatt: Über Unglück lässt sich leichter schreiben als über Glück. Aber Glück passiert ja auch nicht so einfach. Glück ist der Versuch, Unglück auszuschalten. Natürlich könnte man auch über Gründe fürs Glück nachdenken.


Lenz: Aber ja. Ich wurde aber durch meine Großmutter sehr früh geimpft, das andere zu sehen. Als Kind ging sie mit mir zur Kirche, wenn dort Hochzeit gefeiert wurde, zeigte auf das strahlende Brautpaar und sagte: "Jungchen, das geht nicht gut aus." Ich habe Jahrzehnte nachgedacht, um zu erfassen, was sie meinte.


Abendblatt: Aber Sie haben doch eine sehr lange Ehe geführt.


Lenz: 57 Jahre. Aber am Ende kam der Tod meiner Frau.


Abendblatt: Sie sind Mitglied von Helmut Schmidts Freitagsgesellschaft, bei der sich ein paar Mal im Jahr Politiker, Unternehmer, Wissenschaftler und Künstler zu einer Diskussionsrunde treffen. Ein Mitglied trägt dann ein Thema vor. Worüber haben Sie zuletzt referiert?


Lenz: Über den Autor Jorge Semprún. Er war ja im KZ Buchenwald. Über den Menschen in extremen Situationen. Und über die Darstellbarkeit des extremen Schreckens in einer anscheinend hoffnungslosen Lage.


Abendblatt: Was ist denn Ihr größter Wunsch?


Lenz: (überlegt lange, fragt dann seine Freundin) Ulla, was ist mein größter Wunsch? Also vielleicht, dass mein linkes Bein verlässlicher wird.