Marcel Reich-Ranicki urteilt über den neuen Roman von Martin Walser

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Stilistisch und gedanklich von einer erbärmlichen Qualität - das trifft mich tief.

ABENDBLATT: In Walsers neuem Roman "Tod eines Kritikers" wird ein Ihnen nachgezeichneter Kritiker mit antisemitischen Klischees ausgestattet und angeblich von einem Schriftsteller ermordet. Wie beurteilen Sie den Roman? MARCEL REICH-RANICKI: Die Lektüre dieses Romans hat mich erschüttert. Martin Walser hat in seinem Leben viele schwache oder misslungene Romane geschrieben, ein derartiges Werk aus seiner Feder gab es bisher nicht. Das Buch zeugt von dem totalen Zusammenbruch eines Schriftstellers, eines Talents und wohl auch einer Persönlichkeit. Es ist stilistisch und gedanklich auf einem erbärmlichen Niveau. Mich persönlich trifft das tief, denn ich kenne Martin Walser seit 1958, und ich habe seit 1958 über ihn publiziert. Es ist nicht wahr, dass ich ihn immer verrissen hätte. Ich habe sogar mehr Lobreden über ihn veröffentlicht als negative Kritiken. ABENDBLATT: Was ist denn nun so misslungen an dem Roman, abgesehen davon, dass Walser etwa behauptet, Sie hätten bei Ihren Verrissen im Fernsehen Schaum vor dem Mund und dies sei "sein Ejakulat . . . , wenn er sich im Dienst der doitschen Literatür aufgeilt"? REICH-RANICKI: Die Sprache ist vollkommen hilflos. Außerdem ist das Buch sehr langweilig und sehr schwer lesbar, und zwar vor allem deshalb, weil sehr viele Personen auftreten und die meisten sich nicht unterscheiden lassen. Das Buch enthält viele Akzente gegen zeitgenössische Personen, die man wieder erkennt. Erstaunlicherweise sind dies häufig Personen, mit denen Walser befreundet war oder ist. Oft liegt das an der Grenze der infamen Denunziation. Man erkennt Walter und Inge Jens ( die im Roman so asexuell dargestellt werden, dass sie nur als Geschwisterpaar auftreten. Walter Jens etwa verlässt das Zimmer, wenn das Wort "Prostata" fällt, d. Red.) und den Verleger Siegfried Unseld, der im Roman stirbt. ABENDBLATT: Walser hat des Öfteren in seinen Romanen, aber auch bei öffentlichen Auftritten das Thema Judenverfolgung abzuschütteln versucht. Er ist deshalb als Antisemit und "geistiger Brandstifter" verurteilt worden. Was sagen Sie zu dem Vorwurf, der Roman sei antisemitisch und würde eine allgemeine gesellschaftliche Stimmung bedienen? REICH-RANICKI: Der Roman wird naturgemäß mit der allgemeinen Stimmung und mit den anderen jetzigen politischen Vorgängen in einen Zusammenhang gebracht. Aber er ist entworfen worden, als Walser diese Stimmung natürlich nicht voraussehen konnte. Das Überraschendste an dem Roman ist aber seine erbärmliche Qualität. Andere Akzente, die in dem Roman zu finden sind und die beanstandet wurden, sind ja schon in vorangegangenen Büchern Walsers, wie im "Springenden Brunnen" zu finden. Ich möchte aber über den Antisemitismus und Walser nichts weiter sagen. ABENDBLATT: Walser behauptet, sein Roman sei eine Abrechnung mit der Machtausübung zur Zeit des Fernsehens. Er hat Sie kürzlich als "beschränkt" bezeichnet, weil Sie keines seiner Bücher in Ihren Kanon der wichtigsten Romane aufgenommen haben. Fühlen Sie sich persönlich gekränkt? REICH-RANICKI: Ich fühle mich zutiefst gekränkt, dass ein Autor, mit dem ich mich seit 1958 intensiv beschäftige, auf ein so erbärmliches literarisches Niveau kommen konnte. Das vor allem trifft mich. Die Qualität des Buches beleidigt mich mehr als seine ganzen antisemitischen Äußerungen. ABENDBLATT: Wie geht es mit Ihnen und Walser weiter? Werden Sie den Roman rezensieren? REICH-RANICKI: Ich benutze gelegentlich den Autoren gegenüber, mit denen ich mich oft beschäftige, das Wort Patient. Das ist nicht ganz ernst gemeint. Auch Walser zähle ich seit Jahrzehnten zu meinen Patienten. Das ist wohl mit diesem Buch beendet. Eine Kritik über diesen Roman kann ich nicht schreiben. Interview: ARMGARD SEEGERS