Der Autor Sten Nadolny reist in seinem neuen Roman “Weitlings Sommerfrische“ in die Vergangenheit und träumt eine Wunschbiografie.

Literaturhaus. Ein Mann, er ist schon alt und hat sein Leben zu einem großen Teil gelebt, kentert an einem Sommertag auf dem Chiemsee mit seinem Boot. Die See tost, der Himmel ist zappenduster, der Alte strampelt im Wasser. Und dann ist er in Ufernähe, Männer laufen ins Wasser, packen ihn und die "Plätte", wie hier in Süddeutschland ein Kahn mit Segel genannt wird: So ist das Dorf, sie sind da, wenn man sie braucht.

Nur dass der Gerettete plötzlich wieder 16 ist. Ein Heranwachsender namens Willy, der an die Stelle des Berliner Richters Dr. Wilhelm Weitling getreten ist: Der alte Weitling selbst ist ein Satellit seines früheren Selbst, er ist als Geist anwesend, wenn Willy durch die Stätten seiner Jugend stapft. Dies ist der formale Kniff, den Sten Nadolny in seinem neuen Roman "Weitlings Sommerfrische" anwendet. Sein Held darf jetzt noch einmal erleben, wie es ist, Teenager zu sein und im Jahr 1958 mit den Eltern im Wohnzimmer zu sitzen.

Er drückt sich als unsichtbarer Gast in einem vergangenem Leben herum und macht sich dabei seinen Reim auf das Tun des jungen Alter Ego, das noch die Schule besuchen und Lateinprüfungen schreiben muss. Sehen können ihn, den alten Weitling, nur der altersschwache Großvater und ein Betrunkener. Ein Rätsel, kaum erklärbar: Ist er in ein sogenanntes "Wurmloch" geraten, das den Zeitstrom verändert und eine physikalische Besonderheit ist? Weitling wundert sich nur milde über seinen Trip ins Vergangene. Warum sich den Kopf zerbrechen, es gibt doch so viel zu sehen - auch wenn ihm der "Jugendarrest für Senioren", wie er sein Abenteuer nennt, nach einiger Zeit ziemlich auf die Nerven geht.

Wilhelm mag Willy nämlich nicht uneingeschränkt, und wenn der Ältere das Treiben des Jüngeren kommentiert, dann hat das durchaus seine heiteren Momente. Manchmal ist es aber auch einfach nur albern. Auf die Dauer ziemlich fad ist das Bemühen Nadolnys, die ironische Distanz des Erwachsenen als Puffer zwischen der Räsoniersucht des Erzählers und dem Gelangweiltsein des Lesers zu installieren: Sätze wie "Der Mensch unter 30 ist mit dem Werden beschäftigt, und viele wollen ihm dabei helfen" sind betulich.

Das gilt ein bisschen für den gesamten Roman, der eine (sicherlich bewusst) altbackene Variante des Kinofilms "Zurück in die Zukunft" darstellt. Zeitreisen sind ja ein Klassiker der erzählenden Formen. Auf der Leinwand manipulieren die Helden in einem funkensprühenden DeLorean-Flitzer das Zeitkontinuum, in "Weitlings Sommerfrische" schippert die Hauptfigur über den Chiemsee ins Früher.

Auch das Doppelgänger-Motiv ist ein altbekanntes in der Literaturgeschichte. Nadolnys aus der eigenen Biografie - er wurde 1942 in Brandenburg geboren, wuchs jedoch am Chiemsee auf - schöpfender Roman überrascht im letzten Viertel mit einer gelungenen Pointe. Als Weitling in der Gegenwart erwacht, ist er ein anderer: kein Richter, sondern ein Schriftsteller. Diese Entdeckung kommentiert er mit charmantem Understatement ("Ich war dann gar nicht unglücklich damit, manches las sich flott"); vielleicht zitiert Nadolny hier die grundsätzliche Befangenheit des Autors, wenn er sein Werk liest. Ganz sicher spielt er mit seiner Biografie: Ob das Wunsch-Ich des kinderlosen Richters dabei mehr als Koketterie ist, bleibt dahingestellt. Eine Identitätsstörung sieht anders aus, jedenfalls.

Der "wahre" Weitling ist im Gegensatz zum erfundenen, erträumten nicht religiös. Was immer das für den Erzähler heißen mag, der am Ende seinen Frieden mit sich und seiner Existenz macht: "Ich lebe mein verändertes Leben mit Freude und Entschiedenheit, trauere dem ausgemusterten Mittelteil meiner Biografie nur noch selten nach."

"Weitlings Sommerfrische" ist eine Art Lebensbeschreibung nadolnyscher Prägung. Der Autor schrieb einst mit "Die Entdeckung der Langsamkeit" einen weltweiten Verkaufserfolg, sein Erzählen hat einen ruhigen Rhythmus. Seine Unaufgeregtheit ist eigentlich gar nicht unsympathisch.

Sten Nadolny: "Weitlings Sommerfrische", Piper. 224 S., 16,99