Beim Live Art Festival und in Wim Vandekeybus' Tanzstück auf Kampnagel sind die Spieler unbekleidet. Sie zeigen bewusst Verletzlichkeit.

Hamburg. Es beginnt ganz harmlos. Die Spieler in Xavier le Roys Tanzperformance "low pieces" versuchen von der Bühne aus, eine Diskussion mit den Zuschauern anzuzetteln, was im Publikum unterschiedliche Reaktionen provoziert. Amüsement, weil nur gequatscht und gar nicht getanzt wird; Enttäuschung, um eine Tanzvorstellung geprellt zu sein; Konzentration, um zu verstehen, was andere sagen - oder einfach Verärgerung. Plötzlich erlischt das Licht. Als es wieder hell wird, sind die Tänzer und Tänzerinnen nackt. Die Wahrnehmung des Zuschauers verändert sich schlagartig. Aufmerksamkeit und Vertrautheit weichen Irritation, Unbehagen, Abwehr und bestenfalls einer Belustigung oder dem Gefühl des Sich-Fremdschämens.

Nacktheit auf der Bühne, ob es sich um Schauspieler oder Tänzer handelt, provoziert noch immer Ablehnung. Sittliche Empörung, immer wieder (gern auch großflächig bebilderte) Debatten in den (Boulevard-)Medien oder bisweilen scheinheilige Protestaktionen. Im Vorjahr hatte auch das Hamburger Live Art Festival auf Kampnagel seinen kleinen Skandal: Gegen Pascal Ramberts nacktes Duo "Libido Sciendi" wurden im Vorfeld Pornografie-Vorwürfe laut.

+++Tänzer ziehen blank+++

Das "Kopulationsduo" erwies sich dann als ästhetisch und klar stilisierte Form eines Liebesakts, der in keiner Weise obszön oder schmuddelig wirkte. Der Akt sexueller Begegnung, im Abendlicht hautnah am Zuschauer ausgeführt, verwandelte sich im Kunstkontext zur symbolischen Paarung aus der "Begierde nach Wissen", dem Wunsch seinen Partner im biblischen Sinn zu erkennen. Durch den Mut, die Ehrlichkeit und Ernsthaftigkeit des Tänzerpaars begegnete dem Zuschauer exakt das Gegenteil einer Porno-Show. Und trotzdem wird sie wohl auch in diesem Jahr wieder gestellt, die irritierte, gelegentlich genervte Frage: Müssen die immer alle nackig sein?

Müssen sie natürlich nicht. Aber es hilft zu verstehen, was der Hintergrund ist, schließlich ist Nacktheit im zeitgenössischen Tanz - nicht nur auf Experimentierbühnen, sondern auch in den etablierten Hochkulturhäusern - längst gang und gäbe. Aber es geht weniger, wie in der Ausdruckstanz-Bewegung, um die Behauptung eines "natürlichen" Körpers, es geht auch nicht um die "sexuelle Befreiung" der Sixties. Das Interesse der Choreografen von heute ist die Reflexion der realen Welt. Es geht um gesellschaftlich entworfene, durch das Internet und andere Medien transportierte Bilder und Masken. Um die uns alle täglich aufgedrängte Nacktheit.

Muskulöse, perfekte Körper werden uns jeden Tag in der Werbung präsentiert. Fast wirkt die straffe Haut dort wie ein Schutzpanzer, ein Kostüm gegen die Nacktheit. Zeigen Performer auf der Bühne nun aber Alter, Falten und überflüssiges Fleisch, konfrontieren die Künstler den Betrachter mit den eigenen ungeliebten Schwächen und der Vergänglichkeit. Gegen den kommerzialisierten Terror und den Wahn von Jugend und Schönheit, den zum "Markenartikel" verfremdeten Körper in der Warenwelt lassen die Choreografen mit Ironie, Spott und nackten Tatsachen antanzen. Choreografen wie John Jasperse, Jérôme Bel, Dave Saint-Pierre oder Boris Charmatz, um nur einige zu nennen, untersuchen den Körper. Ein Performance-Abend ist also im Grunde eine Art Forschungsseminar. Die Spieler zeigen Verletzlichkeit, sie rücken den Menschen roh und direkt in den Blick des Zuschauers. Sie rücken ihm, wie man so schön sagt, "auf die Pelle".

+++"The Petits Fours Show": Kunstvoll entblättert+++

Die berühmte Berliner Choreografin Sasha Waltz widmete sich der Geschichte, der Sexualität und dem Tod des Körpers in ihrer "Body"-Trilogie. Ihr Kollege Dave Saint-Pierre wirft seine Tänzerkörper in der schönen Ungeschöntheit der Nacktheit in den Kampf gegen den Gefühlsmangel einer übersexualisierten und technisch normierten Welt und fordert: "Un peu de tendresse, bordel de merde!" - ein bisschen mehr Zärtlichkeit, verflucht noch mal! Es mag paradox klingen, aber Nacktheit in der Performance oder im Tanz ist auch als Rebellion gegen zu viel aufgedrängte Nacktheit, gegen zu viel Bloßstellung im echten Leben gemeint.

Bei der diesjährigen Ausgabe des Live Art Festivals (30.5.-9.6.) werden bei Xavier Le Roy wieder Nackte auf der Bühne stehen, ebenso an diesem Donnerstag in Wim Vandekeybus' Solo "Monkey Sandwich". Xavier Le Roy führt in dem Stück "low pieces" (1./2.6., 20 Uhr) seine konzeptuelle Arbeit weiter. Seit "Self Unfinished" reflektiert der in Berlin lebende Franzose in seinen Stücken über die Repräsentation des Körpers, über musikalische oder theatralische Vorgänge im Kunstkontext. Sie entziehen sich den Maßstäben von Ästhetik, Handlung oder Virtuosität "konventioneller" (Tanz-)Aufführungen und entfalten eine eigene Intelligenz und strenge Form.

In "low pieces" schafft Le Roy so eine Situation, die das Bild der redenden Akteure verdrängt: Die Akteure sind vor allem Körper. Die Haut ist ihr einzig wahres Kostüm, wie es der Kanadier Daniel Léveillé ausdrückt, dessen choreografisches Interesse in seinen Stücken ("Amour, acide et noix", "La pudeur des icebergs") ebenfalls dem nackten Körper gilt. Le Roys Gruppe aus "normalen Individuen" in Anzügen verwandelt sich in unbestimmbare Wesen, die Pflanzen oder Tiere sein könnten. Sie verkörpern Gefahr, Leben und vitale Energie, werden zu Projektionsflächen für die Ängste und Fantasien der Zuschauer. Das Anderssein der nackten Performer einerseits - durch den Verstoß gegen den verabredeten Bekleidungszwang in der Öffentlichkeit - und das gleichzeitige Wissen um die Ähnlichkeit des eigenen Nacktseins andererseits erzeugen oft widersprüchliche Gefühle im Betrachter.

Erst im Blick des Zuschauers wird die Nacktheit auf der Bühne zur eigentlichen Nacktheit. Handelt es sich zudem um Tänzer mit unverhüllten, baumelnden Geschlechtsteilen, die sich beim Anspringen, Hochheben oder Umfassen eng berühren, sinkt die Toleranzgrenze vor allem bei männlichen Zuschauern rapide.

Im Englischen bezeichnen die Wörter "nudity" und "nakedness" den unbekleideten Körper, haben jedoch unterschiedliche Nebenbedeutung: Während "nudity" eine (selbst)bewusste, freiwillige, verantwortliche und darum akzeptable Nacktheit meint, ist "nakedness" verbunden mit unangenehmen, demütigenden Situationen. Die Choreografen präsentieren jedoch in ihren Arbeiten Nacktheit im Sinn von nudity. Sie wollen den Zuschauer vom Voyeur zu ihrem Komplizen machen, der auch den eigenen Körper akzeptiert.

Die von ihnen gezeigte Nacktheit auf der Bühne ist auch ein harter Brocken Realität, wenn man so will. Wenn dort das Fett wabbelt, die Haut sich dellt oder nach einem Schlag errötet, dann ist das die Gegenfigur zur cleanen Bilderflut im Internet, die einen nicht endenden Strom von Körpern produziert. Alle perfekt, alle auch in großem Maße unwirklich: Per Photoshop kann am Computer heute jeder Körper verändert werden.

Die Manipulation des Fleisches ist die Körper-Praxis der Gegenwart; der zeitgenössische Tanz und auch das Theater sagen ihr den Kampf an.