Vor 25 Jahren landete Mathias Rust auf dem Roten Platz. Erst heute wird klar, welche politischen Folgen die Aktion in der UdSSR hatte.

Hamburg. Er habe eine schlechte Nachricht, sagt der Pressesprecher der ARD. Der Sender hatte vorige Woche mit großem Trara zu einer Filmpremiere eingeladen. "Der Kremlflieger" heißt das Werk. Es sind erschienen: die Autorin, die Redakteurin, der Produzent, der Pressesprecher und der Bestsellerautor Wladimir Kaminer, der auch irgendwas zum Thema sagen will. Es gibt nur ein Problem: Der Kremlflieger ist nicht da.

"Herr Rust hat uns heute am frühen Morgen abgesagt. Gründe hat er nicht genannt. Er ist kein einfacher Mensch, habe ich mir sagen lassen", sagt der Pressesprecher.

Vor 25 Jahren landete der 19-jährige Mathias Rust aus Wedel bei Hamburg mit seiner Cessna auf dem Roten Platz. Und blamierte mitten im Kalten Krieg die Sowjetunion. 14 Monate musste er in den Knast. Nach seiner Rückkehr kam er mit dem Leben nicht zurecht: Er stach eine Schwesternschülerin nieder und verletzte sie schwer, er klaute, Ehen scheiterten, er arbeitete als professioneller Pokerspieler, als Finanzanalyst. Jetzt will er in Hamburg eine Yoga-Schule eröffnen.

+++ "Der Flug hat ihm nicht viel Glück gebracht" +++

Was hat die Landung auf dem Roten Platz aus Mathias Rust gemacht? Anfang April hatte das Hamburger Abendblatt einen Termin mit Rust in einem Hamburger Hotel, er sagte kurzfristig ab. In der vergangenen Woche in Berlin, bei der Filmpremiere, sollte es dann klappen - Rust kam nicht. Per Mail sagte er ein Treffen für diese Woche zu - und wieder ab, endgültig, "aus gegebenem Anlass". Was er damit meint, ist ein Rätsel, wie so vieles in seinem Leben.

Mathias Rust war immer schon anders. Als 15-jähriger interessierte er sich für das Thema Abrüstung. Er lebte mit seinen Eltern und seinem Bruder in einer Reihenhaussiedlung in Wedel. Als Michail Gorbatschow von Perestroika und Glasnost sprach, war Mathias Rust begeistert. Der Teenager hatte selbst ein 40-seitiges Pamphlet für eine bessere Gesellschaft aufgeschrieben: keine Parlamente, mehr Bürgerbeteiligung. "Lagonia" nannte er sein Traumland.

Rust war enttäuscht, als im Oktober 1986 die Abrüstungsgespräche zwischen Gorbatschow und seinem amerikanischen Amtskollegen Ronald Reagan in Island scheiterten. Er wollte etwas tun.

Fliegen war da schon seine Leidenschaft, er hatte die Banklehre abgebrochen, um Pilot zu werden. Seit 1985 war er Mitglied im Aero Club Hamburg, der Pilotenschein kostete 10 000 Mark, seine Eltern zahlten. Und dann war die Idee da: Rust wollte nach Moskau fliegen, auf dem Roten Platz landen und mit Gorbatschow reden. Er wollte ihm sagen, dass viele Menschen im Westen an ihn glaubten und den Frieden wollten.

Am 13. Mai 1987 um 10.51 Uhr startete Rust mit seiner Cessna vom Flugplatz Uetersen. Die Maschine hatte er für drei Wochen gemietet - für eine Urlaubsreise, wie er seinen Eltern erzählte. Auf das Armaturenbrett klebte er ein Foto von seinem Cocker-Spaniel Florian. Über Westerland und die Färöer ging der Flug nach Reykjavík. Er wollte den Ort kennenlernen, an dem die Friedensverhandlungen gescheitert waren. Acht Tage blieb er. Über die Shetlandinseln und Bergen ging der Flug weiter nach Helsinki. Am 28. Mai um 13.21 Uhr hob die Cessna dort in westlicher Richtung ab, angemeldet war ein Flug nach Stockholm. Doch dann verschwand das Flugzeug vom Radar.

Was in den folgenden Stunden und Wochen passierte, steht im Mittelpunkt des ARD-Films "Der Kreml-Flieger", der Autor Ed Stuhler hat ein gleichnamiges Buch geschrieben. Film und Buch greifen ein Thema auf, das bislang kaum beachtet wurde: die Serie von Pannen bei den sowjetischen Sicherheitskräften und die politischen Auswirkungen der Landung auf dem Roten Platz.

Rust profitierte von vielen Zufällen und Schlampereien. Die Flugüberwachung in Tallinn bemerkte seine Cessna zu spät, weil die Verantwortlichen damit beschäftigt waren, ihre Sauna anzuheizen. Dann vergaßen sie auch noch anzugeben, dass das Flugzeug aus dem Ausland gekommen war.

Auf seiner Strecke war ein Transportflugzeug abgestürzt, viele Rettungsflieger waren unterwegs, Rust fiel nicht auf. Ein sowjetisches Militärflugzeug umkreiste den Eindringling schließlich - und drehte wieder ab.

Um kurz nach 18 Uhr sah er die Silhouette Moskaus. Den Roten Platz musste er eine halbe Stunde lang suchen. Mehrmals kreiste er über dem Platz; eigentlich wollte er direkt vor dem Lenin-Mausoleum landen, aber es waren zu viele Menschen unterwegs. Schließlich landete Mathias Rust auf einer vierspurigen Brücke über der Mos-kwa. Er ließ seine Cessna ausrollen und parkte vor der Basiliuskathedrale. Die Kreml-Uhr zeigte 18.43 Uhr.

Mathias Rust hatte es geschafft. Er kletterte aus seiner Maschine und wartete, dass etwas passierte - ein junger Deutscher mit Fliegerbrille, der rote Fliegeroverall schlotterte um seine dürre Gestalt. Es dauerte eine Weile, bis die Menschen näher kamen. Ein Schüler konnte Englisch und übersetzte. Er komme aus Deutschland und sei wegen des Friedens hier, sagte Rust. Die Menschen applaudierten und wollten Autogramme.

Später schritt ein Mann mit vielen Orden auf der Brust heran. Er stellte sich Rust zufolge als Polizeipräsident von Moskau vor und tadelte den Deutschen dafür, dass er kein Visum beantragt hatte. Und verschwand.

Doch dann riegelte der KGB den Platz ab, Rust wurde festgenommen.

Michail Gorbatschow war an jenem Tag gar nicht in der Stadt, sondern in Ost-Berlin. Als er die Nachricht von der Landung erhielt, war er nicht erfreut. Später schrieb er: "Die Sache wurde als Ohrfeige empfunden, die unser Land und seine Streitkräfte einstecken mussten. Schließlich war die Landung auf dem Roten Platz ein Zeichen dafür, dass unsere Sicherheit nicht gewährleistet war und in der obersten militärischen Führung allzu große Nachlässigkeit herrschte."

Was Gorbatschow nicht schrieb: Die Pannen waren die Chance, seine Gegner aus dem Weg zu räumen. Und er nutzte sie. Am 30. Mai 1987 erklärte Verteidigungsminister Sergei Sokolow seinen Rücktritt. In den folgenden Wochen und Monaten wurden 300 Offiziere und Generäle entlassen. Das, sagt Gorbatschows ehemaliger Berater Valentin Falin in dem ARD-Film, seien ungefähr so viele, wie die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg auf dem Schlachtfeld verloren habe.

Gorbatschows Motiv: Er wollte die Rüstungskosten senken, die sein Land ruinierten. Er wollte das Geld in die Wirtschaft stecken, die Hardliner aus dem Militär waren dagegen.

Fest steht: Der Kalte Krieg wäre nicht so schnell beendet worden, wenn sich die Hardliner gegen Gorbatschow durchgesetzt hätten.

Rust jedenfalls wurde zu vier Jahren Lagerhaft verurteilt - wegen gesetzwidriger Einreise, Verstößen gegen die Regeln des internationalen Luftverkehrs und böswilligen Hooliganismus. 14 Monate saß er im KGB-Gefängnis Lefortowo, in einer Doppelzelle. Er hatte Magenprobleme und Depressionen, nahm zehn Kilo ab.

Deutsche Politiker setzten sich für ihn ein: Bundespräsident Richard von Weizsäcker, Willy Brandt, Hans-Dietrich Genscher reisten nach Moskau. Am 3. August 1988 wurde Rust begnadigt.

Für seinen Trip nach Moskau hatte er einen detaillierten Plan gehabt. Aber für den Rest seines Lebens hatte er anscheinend Planungsprobleme. Mit den Medien verscherzte er es sich, weil er sein erstes Interview an den "Stern" verkaufte - und bei seiner Ankunft in Frankfurt einfach an den wartenden übrigen Journalisten vorbeiging. Plötzlich war er nicht mehr der "Friedensflieger" und "tolle Mathias", sondern ein "spätpubertierender Jungspießer" und "geistiger Tiefflieger".

Dass er zu den Russen, den Feinden des Westens, geflogen war, nahmen ihm viele übel. Rust erhielt Morddrohungen. Sein Bruder musste die Schule wechseln. Rust selbst fühlte sich bedroht, nahm zur Sicherheit ein Messer mit, wenn er das Haus verließ.

Am 23. November 1989 stach er mit seinem Messer auf eine 18-jährige Schwesternschülerin ein und verletzte sie schwer. Er habe einen Blackout gehabt, sagte Rust. Ein Gutachter im Strafprozess befand, dass die junge Frau Rust mit einer Bemerkung "mitten ins Zentrum der Neurose getroffen" habe. Rust wurde zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt. 1992 trat er die Strafe an, 1993 wurde er vorzeitig entlassen.

Er heiratete zum ersten Mal, eine Polin. Die Hochzeit in den USA verkaufte er an den TV-Bezahlsender "Premiere" und die "Bunte". Die Ehe hielt viereinhalb Jahre. Seine zweite Ehe mit einer Inderin, mit der er in Trinidad lebte, scheiterte ebenfalls. 2001 sorgte er noch einmal für Aufsehen, als er erneut vor Gericht kam und zu einer Geldstrafe verurteilt wurde: Er soll einen Kaschmir-Pullover geklaut haben.

Rust arbeitete als professioneller Pokerspieler, verdiente schon mal 750 000 Euro an fünf Abenden. Jetzt gibt er an, Finanzanalyst zu sein, das Wissen habe er sich in Kursen angeeignet. Er pendele zwischen Hamburg und Zürich. Des Weiteren lässt er sich zum Yoga-Lehrer ausbilden, in ein bis zwei Jahren will er in Hamburg seine eigene Yoga-Schule eröffnen.

Am 28. Mai 2012 jährt sich sein verrückter Flug zum 25. Mal. Die Medien interessieren sich wieder für ihn. "Stern"-Chefredakteur Thomas Osterkorn bekam ein Interview, er begleitete den Fall schon vor 25 Jahren. Rust sagte dem "Stern": "Ich würde es sicherlich nicht mehr tun und meine Pläne nicht mehr für realistisch halten." Andererseits: "Wäre das alles nicht geschehen, hätte ich vieles auch nicht gesehen und nicht erlebt. Mir würde etwas fehlen."

Seine Cessna steht heute im Berliner Museum für Verkehr und Technik. In Trinidad hat Rust noch eine Pilotenlizenz. Er könnte sie in eine europäische Lizenz umschreiben lassen. Aber sein Interesse am Fliegen ist nicht mehr so groß.

Der Film "Der Kremlflieger" wird am 21. Mai um 23.30 Uhr in der ARD ausgestrahlt. Das Buch "Der Kreml-Flieger" von Ed Stuhler ist im Christoph Links Verlag erschienen und kostet 16,90 Euro.