Stéphane Hessel ist mit “Empört Euch!“ zum Vorzeige-Altersweisen geworden. Nun hat er sein Leben aufgeschrieben und empört sich noch immer.

Den Jungen gehört die Welt, die Alten sollen beizeiten Platz machen und bestenfalls noch dekorativen Zwecken genügen, etwa wenn sie einen Preis für ihr Lebenswerk bekommen ... Diese Gebote des Jugendkults hat in jüngster Zeit niemand so klar widerlegt wie Stéphane Hessel. Seit seinem Überraschungserfolg "Empört Euch!" ("Indignez-vous!", 2010), der punktgenau die ersten Proteste gegen die Finanzkrise, gegen Stuttgart 21 und dann die Arabellion begleitete, ist der 94-Jährige zum Vorzeige-Altersweisen geworden. Ein Mann, der offenbar auch den Ruhestand hinter sich hat und seine Reserven mit einer letzten gewaltigen Energie auf den Markt wirft: Ich habe euch etwas zu sagen. Hessels Popularität ist so gewachsen, dass er jetzt, auf Empfehlung seiner Verlegerin, seine Lebenserinnerungen nachgereicht hat: "Empörung - meine Bilanz".

Statt einer chronologischen Vita führen diese Erinnerungen wie ein Spaziergang durch eine Landschaft von Erkenntnissen und Begegnungen, die Hessel geprägt haben. Dazu gehören ungewöhnliche, heute fast vergessene Ereignisse wie die Entstehung derAtlantikcharta. 1941 einigten sich der US-Präsident Franklin D. Roosevelt und der britische Premier Winston Churchill bei einem Geheimtreffen auf einem Schlachtschiff auf die Grundwerte einer besseren Weltordnung: Verzicht auf territoriale Expansion, Verzicht auf Gewaltanwendung, das Recht aller Menschen auf Redefreiheit, Glaubensfreiheit, Freiheit von Not und Furcht. Diese Charta, entstanden in der Auseinandersetzung mit dem Totalitarismus, war Vorläufer der 1945 unterzeichneten Charta der Vereinten Nationen. Und indirekt war sie auch ein Vorläufer der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, an der Hessel dann als Uno-Beauftragter 1948 mitwirkte.

+++Die nächste Stufe der Erregung+++

"Es wäre schön, könnten die heutigen Erben dieser hohen Grundsätze nochmals einen solchen Anlauf nutzen, wie er damals zustande kam", schreibt er. Für ihn sind diese Grundsatzerklärungen ein Beweis, dass sich die Menschen weiterentwickeln, trotz aller Rückschläge, die er selbst erlitten hat. 1917 in Berlin geboren, emigrierte Hessel als Kind mit seinen Eltern nach Paris, schloss sich 1941 der französischen Résistance an, wurde 1944 von der Gestapo verhaftet, gefoltert und ins KZ Buchenwald deportiert. Ein Mithäftling, Eugen Kogon, rettete ihm das Leben: Er überredete einen Arzt, der an den Häftlingen Fleckfieberversuche unternahm, drei noch gesunde Gefangene mit den Papieren schon gestorbener in ein anderes Lager zu überweisen. Einer von ihnen war der bereits alsSpion zum Tode verurteilte Hessel. Das Gefühl, dass noch nicht alles verloren sei, habe ihn trotz Buchenwald nie verlassen, schreibt Hessel.

Er ist kein Analytiker, der dem Irakkrieg oder der Finanzkrise auf den Grund geht. Stattdessen zeigt das Buch einen Menschen mit einer inneren Melodie, erfüllt von Freude am Leben, am Ausprobieren, an der Vision. Hessel bezeichnet sich selbst als einen glücklichen Menschen, der geliebt hat und geliebt worden ist. Seine Mutter hatte ein etwas jüngeres Mädchen für ihn ausgeguckt, schreibt er. Aber es sei die Mutter dieses Mädchens gewesen, die ihn als 17-Jährigen einfühlsam in die Liebe eingeführt habe. Mit seiner ersten FrauVitia, die er kurz darauf kennenlernte, verbrachte er 47 gemeinsame Jahre, in denen eine Tochter und zwei Söhne zur Welt kamen. Er habe sich nicht immer wie ein Kavalier verhalten, schreibt er. Aber auch hier wieder: Tiefpunkte, Zumutungen und Brüche enden in erfüllten Beziehungen und spätem Glück.

+++Revolution für die Hosentasche+++

Hessel war und ist kein Revolutionär. Für ihn hatten die Revolutionen des 20. Jahrhunderts schon in den 40er-Jahren ihren Glanz verloren. Das Adrenalin des Aufstands sei "immer nur der Anfang eines Weges", schreibt er auch mit Blick auf die Länder der Arabellion. Was folgen muss, sind die Mühen der Ebene: das ständige Streben nach "Good Governance" und um eine gerechtere Weltordnung.

Die ist noch lange nicht erreicht. Gründe dafür nennt er nur vage: den Einfluss des Neoliberalismus, blinde Deregulierung, anhaltende nationalistische Tendenzen. Selbst in demokratischen Ländern erschöpfe sich "gute Staatsführung" heute in Verordnungen, Verwaltung und Etatfragen. Das Ideal der Demokratie, Menschen in die Gestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft einzubeziehen, trete immer mehr zurück: Gerade im Gefolge derFinanzkrise träfen Regierungen die wichtigen Entscheidungen unter sich.

Hessel wird nicht müde zu betonen, dass die Bildung der Vereinten Nationen entscheidende Grundlagen geschaffen hätte. Kein Land könne es sich heute noch leisten, den Menschen dauerhaft die Standards zu verweigern, die in der Atlantikcharta formuliert wurden. Es ist vielleicht genau diese Rückbesinnung auf Grundwerte der Demokratiebildung, die jemanden wie Hessel heraushebt aus dem inzwischen völlig theorie- und utopielosen Politik-Schwafelbetrieb, an den wir uns gewöhnt haben. Da ist jemand, der noch immer die großen Ideale nennt, der große Reformen und große internationale Initiativen zur Bekämpfung der Armut und im Umgang mit dem Klimawandel anmahnt. Wer nicht will, dass Gier, Engstirnigkeit und Mittelmäßigkeit siegen, muss sich empören, muss Demokratie und Gerechtigkeit zu seiner eigenenSache machen, schreibt Hessel.

Für solche Anstöße werden dieAlten dringend gebraucht. Nach dem Ende des Kalten Krieges mit der implodierenden New Economy und der Neuordnung der Märkte ist Ernüchterung eingekehrt. Inzwischen hat sich gezeigt, dass weder die Märkte noch die New Economy "weise" sind. Jil Sander, 68, zog daraus kürzlich einen klugen Schluss: Heute schaue man sich nach denen um, "die Erfahrungen aus der Zeit vorher mitbringen, nach Menschen, die heute nicht die Nerven verlieren, weil sie das Theater aus der Distanz betrachten können." Menschen wie Stéphane Hessel.

Stéphane Hessel "Empörung - meine Bilanz". Pattloch, 233 S., 16,99 Euro. Die Lesung des Autors am 9. Mai im Bucerius-Kunst-Forum fällt aus. Das Theaterstück zum Buch: "Empört Euch doch endlich!" ab 11.5. im Lichthof-Theater, Karten unter T. 85 50 08 40; www.lichthof-hamburg.de