Schnell, klein und empört: Immer mehr Verlage versuchen, mit “Streitschriften“ im Pixi-Buch-Format die Welt zu erklären

Gestern noch schwadronierten Kulturpessimisten über den Untergang des Kulturgutes Buch, das sich im Digitalen verliert. Heute sind wir schon wesentlich weiter. Denn die Buchbranche schlägt zurück - und druckt das Internet kurzerhand zwischen zwei Buchdeckel. Früher vergingen Monate von der Planung eines Titels bis zur Drucklegung - und Autoren wurden oft genug von der Wirklichkeit überholt. Heute werden Internetblogs gedruckt. So wird der überraschende Präsidentschaftskandidat Joachim Gauck, der vor einem Monat noch nichts von seiner zukünftigen Rolle ahnte, schon in Buchform verrissen.

Der Publizist Albrecht Müller, unter Willy Brandt und Helmut Schmidt Leiter der Planungsabteilung im Kanzleramt und heute Betreiber von nachdenkseiten.de , hat schon das Buch publiziert: "Der falsche Präsident. Was Pfarrer Gauck noch lernen muss, damit wir glücklich mit ihm werden". Glücklich ist vielleicht der Verlag Westend über den Scoop, zwei Tage vor der Bundesversammlung ein Besserwisser- und Besserwessi-Buch im Angebot zu haben. Glücklich aber ist es nicht. Ausgerechnet Müller, der in klugen Werken wie "Machtwahn" zu Recht die Oberflächlichkeit der Debatten und der Gesellschaft kritisiert hat, setzt sich nun an die Spitze der Bewegung. 64 Seiten predigt er wider "Pfarrer Gauck", einen vermeintlichen "Reisenden in der Bedienung von Vorurteilen". Nur: Müllers Traktat ist ein einziges Vor-Urteil.

Immerhin hat das neue Büchlein den Vorteil, dass es von Format und Umfang wunderbar neben den "Spiegel"-Bestseller der Woche passt. Praktischerweise hat das der gescholtene Pfarrer Gauck selbst verfasst. Das Büchlein mit - genau - 64 Seiten heißt "Freiheit. Ein Plädoyer" und ist wegen seines festen Einbandes gleich zehn Euro teuer. Der Inhalt ist, was bei Gauck nicht verwundert, klug, bewegend, anregend. Exklusiv aber ist er nicht - der Kösel-Verlag hat kurzerhand eine Rede Gaucks vor der Akademie Tutzing aus dem Jahr 2011 gefunden, gekürzt, gesetzt. Geschickt.

Offenbar - und auch das ist ja ein vielsagendes Bild - orientiert sich die politische Debatte in Deutschland mehr und mehr am Niveau der Kinderzimmer. Weil es den Kindern oftmals an Lust und Ausdauer mangelt, einem großen Buch zu folgen, hatte der Hamburger Carlsen-Verlag schon 1954 Pixi-Bücher aufgelegt, meist 24 Seiten stark, im kleinen Format, so bunt wie leicht. 57 Jahre später schrumpft auch das Politische aufs Pixi-Format.

Den Anfang macht dabei die Wutschrift für Europas Jugend - "Empört Euch" von Stéphane Hessel. Der 94-jährige gebürtige Berliner und ehemalige Résistance-Kämpfer ist ein echter Zeuge des Jahrhunderts, beeindruckend. Für seine Schrift aus dem Ullstein-Verlag lässt sich das nicht uneingeschränkt sagen. Sie vereinfacht, sie verkürzt, und sie versucht die Welt auf 24 Seiten zu erklären - die Auswüchse des Finanzkapitalismus, die Verfolgung von Minderheiten oder den Nahostkonflikt. Das gefällt Millionen - die Auflage ist längst siebenstellig. Selbst über ein Jahr nach der Übersetzung ins Deutsche findet sich die "Streitschrift" noch unter den Top-20 der "Spiegel"-Bestsellerliste.

Das Praktische ist offenbar vor allem der Umfang - man kann die Schmalspur-Lektüre in der Bahn von Bahrenfeld nach Blankenese im Schnelldurchgang lesen, zwischen zwei Saunagängen ein ganzes Buch verschlingen oder den Zeitgeist endlich wieder in die Tasche stecken.

Denn alle Streitschriften und Welterklärungen im Pixi-Format passen perfekt neben die Kasse und in den Mainstream. Gegen den Euro, das Finanzkartell, für die Freiheit, für die Nächstenliebe. Die unvermeidliche Theologin Margot Käßmann predigt für Ullstein, beziehungsweise 3,99 Euro, auf 48 Seiten "Vergesst die Gastfreundschaft nicht". Suhrkamp lässt den streitbaren Ökonomen Heiner Flassbeck "Zehn Mythen der Krise" lesenswert erklären - aber warum nur auf 61 Seiten? Ist die schwierigste Wirtschaftskrise seit der Großen Depression damit ausreichend analysiert? Max Otte, Euro-Gegner und Crash-Prophet auf allen Kanälen, benötigt sogar nur 48 Seiten, um seine Botschaft unters Volk zu werfen. "Stoppt das Euro-Desaster!" Kostet auch nur 3,99 Euro und ist billiger als jeder Rettungsschirm.

Vielleicht sollte ich auch mal ein Büchlein schreiben.