Am 30. Mai 1841 eröffnete das St.-Pauli-Theater - heute ist es das älteste deutsche Privattheater. Ein Rückblick auf turbulente 170 Jahre.

Hamburg. Gut möglich, dass man sich heute kaum vorstellen kann, dass Theater einmal zum ausschließlichen Vergnügen seiner Besucher gemacht wurde. Jedenfalls dort, wo es Volkstheater zu sehen gab, Schwänke, Possen. Das St.-Pauli-Theater, das diese Woche sein 170-jähriges Bestehen feiert und damit das älteste deutsche Privattheater ist, war lange Jahre so ein echter Amüsierschuppen. Obwohl dort mehr gespielt wurde als Lustspiele oder frivole Komödien: Opern, Operetten, Schauspiele und Klassiker gingen hier über die Bühne. Shakespeare, Goethe, Schiller wurden gegeben (nicht immer werktreu und oft auch parodiert), Stücke von Ibsen und Hauptmann feierten hier ihre deutsche Erstaufführung.

Eigentlich ist es ja auch heute wieder so, dass man das St.-Pauli-Theater gerne besucht, weil man dort gut unterhalten wird - mit gehobenem Boulevard von Yasmina Reza, Brechts "Dreigroschenoper", Musicals wie "Cabaret" oder "Anatevka", Komödien wie "Arsen und Spitzenhäubchen", der "Nachttankstelle" oder modernen Klassikern wie "Endstation Sehnsucht" und "Wer hat Angst vor Virginia Woolf". Und immer gibt es aufregende Schauspieler zu sehen: Angela Winkler und Eva Mattes spielen hier, Ben Becker, Hannelore Hoger, Herbert Knaup, Gustav Peter Wöhler und Ulrich Tukur etwa. Wo sonst kann man all diese Film-, Fernseh- und Bühnenlieblinge live sehen? Es gibt kein vergleichbares Theater in Deutschland. Der Regisseur und Autor Horst Königstein sagt: "Das St.-Pauli-Theater verbindet auf einzigartige Weise Boulevard und Avantgarde. Hier können Schauspieler ihre Rollen intensiv ausloten oder auch sich hemmungslos ranschmeißen. Hier geht alles."

Als am Pfingstsonntag 1841 auf der Reeperbahn das Urania-Theater eröffnet und nach dem Stadttheater am Gänsemarkt zweitgrößtes Theater der Stadt wurde, war es mit seinen mehr als 1000 Plätzen als repräsentatives Schauspielhaus der Vorstadt St. Pauli gedacht. Zwei Jahrzehnte lang wurden dann Lustspiele gegeben, aber auch Schiller, Kleist und Iffland. Dann, 1860/61, erlebten die Vergnügungsstätten in St. Pauli einen ungeheuren Aufschwung. Das Theater wurde verkauft und in "Variété-Theater" umbenannt. Nun gab es dort Trauerspiele, Lustspiele, Possen, Vaudeville und traurig-schöne Rührstücke wie "Drei Tage aus dem Leben eines Hamburger Schusters" oder "Die beiden Harfenmädchen von St. Pauli". Die Zuschauer fanden für das Haus Spitznamen wie "Warmtee-Theater" oder "Strickstrumpf-Theoter". Man kann sich vorstellen, wie es im Zuschauerraum zuging: äußerst lebhaft.

Unter Ernst Drucker, der das Theater 1884 übernahm, aber erst ab 1895 selbst leitete und ihm dann auch seinen Namen gab, entwickelte sich das Haus zur Heimat des Hamburger Volksstücks. Figuren wie der Schauermann Thetje Eggers oder die "Aalweiber", Stücke über "Das Nachtjackenviertel" (gemeint war das Gängeviertel) oder den "Fleetenkieker" wurden zu Publikumsrennern. Der Kurs war klar, gespielt wurden volksnahe Stücke mit Hamburger Typen im Hamburger Idiom. Die männlichen Publikumslieblinge spielten auch Frauen, etwa die "Clarinettenguste" oder - wie ab 1940 - die "Zitronenjette". Die "Zitronenjette" wurde im St.-Pauli-Theater im Laufe der Jahre mehr als 1000-mal gespielt. Es wurde zum meistgespielten Stück des Theaters. Gleichzeitig bot Drucker alles an, was sein Haus begehrt machte: Er spielte Halbseidenes wie "Madame Joniaux oder die Giftmischerin", "Die nackte Venus" und "Lolottens Strumpfband", stellte sein Haus aber auch der Hamburger Volksbühne für Erstaufführungen moderner Autoren zur Verfügung. So kamen neue Stücke von Ibsen und Gogol nach Hamburg.

Die Witwe Ernst Druckers verkaufte das Theater 1921 an Siegfried Simon, der allerdings schon drei Jahre später starb. Seine Witwe, Anna Simon, führte das Haus dann 40 Jahre. Das Theater war ihre Lebensaufgabe. In ihre Zeit fällt auch die Umbenennung des Theaters von "Ernst Drucker" in "St. Pauli", denn die Nazis wollten 1941, zum 100-jährigen Bestehen des Hauses, keinen jüdischen Namen mehr an einem deutschen Stadttheater dulden. Auf dem Spielplan standen Hamburger Lokalstücke, in denen fast ausschließlich Plattdeutsch oder Missingsch gesprochen wurde. Die Stücke hießen "Putzbüdel Plattfoot" oder "Theo von de Tankstell", von der "Zitronenjette" wurde eine erfolgreiche Neufassung erstellt. Erst 1955 spielte zum ersten Mal eine Frau diese Rolle: Christa Siems, die jahrzehntelang ein Publikumsliebling bleib. Gemeinsam mit Trude Possehl. Sie spielten in Stücken wie "Die wilde Auguste", "Die flotte Lotte", "Rosen, Erdbeeren, dicke Bohnen".

Heute leitet Thomas Collien in dritter Generation das St.-Pauli-Theater. Sein Großvater Kurt Collien, ein erfolgreicher Konzertveranstalter und Impressario alter Schule, der mit der Callas ebenso vertraut umging wie mit Marlene Dietrich, Ella Fitzgerald oder Josephine Baker (mit der er sogar noch etwas vertrauter war), wurde 1970 von der Stadt gebeten, das schlingernde Theater zu retten.

Vom Operettenhaus, das er damals leitete, war er den großen Auftritt gewohnt, an den sich Enkel Thomas erinnert: "An der Hochallee, wo meine Großeltern wohnten, gab es einen gigantischen Keller für Premierenfeiern. Dorthin kamen die Größen aus dem Showgeschäft, der Clown Grock und der Tänzer Rudolf Nurejew, Filmstars und Musiker. Das war Hollywood im Keller an der Hochallee." Gleich mit dem Eröffnungsstück feierte Kurt Collien einen Erfolg: Freddy Quinn spielte im Musical "Der Junge von St Pauli". Volksstücke mit Gästen wie Willy Millowitsch oder Heidi Kabel, Schwänke wie die "Perle Anna" oder "Tante Jutta aus Kalkutta" prägten damals das Theater auf der Reeperbahn. "Aber die deftigen Volksschauspieler starben aus", sagt Thomas Collien, "man musste sich etwas Neues überlegen."

1981 übernahm Michael Collien das St.-Pauli-Theater und machte den Spielplan bunter. Gastspiele mit Boulevardkomödien, in denen berühmte Stars spielten - etwa Elke Sommer in "Das Geheimnis im Mandarinzimmmer" - oder das US-Musical "Little Shop of Horrors" liefen dann besonders gut. "Es war ein Mix aus boulevardesk und englischsprachig-schrill" erinnert sich Thomas Collien - aber nicht jede Produktion hatte Gewicht: "Wir haben damals sogar eine Aufführung produziert, die 'Rund um die Backstube' hieß. Ein furchtbares Stück. Wir bekamen eine Erbschaft von 100 000 Mark. Die Bedingung war, dass wir dieses Stück herausbringen. Es lief dann 40-mal." Nach 20 Jahren übergab Michael Collien an seinen Sohn, der seit 2001 Hausherr ist und 2003 Regisseur Ulrich Waller an seine Seite holte. Waller hatte zuvor acht Jahre mit Ulrich Tukur die Hamburger Kammerspiele geleitet.

"Das Pubilkum ist heute dem Theater weniger treu als früher", sagt Waller. "Man muss die Zuschauer jedes Mal überzeugen, dass es sich lohnt, zu kommen. Man muss schon etwas Robustes zeigen, um auf dieser Bühne bestehen zu können. Zu leise und zu viel Kunst geht hier nicht so gut." Ihr Konzept: bekannte Schauspieler in modernen, eingängigen Stücken. Meist geht es auf. Muss es auch, denn das Haus lebt von Förderern. Staatliche Zuschüsse gibt es erst seit Kurzem, und ein festes Ensemble kann man sich nicht leisten.

"Angefangen haben wir mit Uli Tukur. Das war schon mal ein Pfund", sagt Thomas Collien. Zu den Anekdoten des St.-Pauli-Theaters gehört die Geschichte des Schauspielers Henry Vahl, der im Alter seinen Text nicht mehr behalten konnte und deshalb einen Knopf ins Ohr bekam, über Funk wurde souffliert. Dort sendete eines Abends allerdings der Polizeifunk, und Vahl gab alles weiter, was er hörte: "Peter 13 bitte kommen, dringender Einsatz", tönte es da von der Bühne. Elke Sommer, die eines abends auftreten sollte, wurde von einer Punkerin vor dem Theater gebissen, weil die Elke Sommer "doof" fand.

Auch Ulrich Waller kennt eine alte Geschichte. Die Zuschauer haben einmal gemurrt, dass das Gretchen in Goethes "Faust" am Ende sterben muss. "Im Chor haben sie gerufen: Er soll sie heiraten. Irgendwann kam der Faust-Darsteller wieder auf die Bühne, das tote Gretchen stand auf, und Faust hat um ihre Hand angehalten. Die Zuschauer haben getobt vor Begeisterung."