In Spanien gehen derzeit Menschen auf die Straße, weil sie nicht mit ihrer Zukunft für das Versagen des Finanzsystems bezahlen wollen.

Hamburg. Protestromantik: Zwei Mädchen sitzen in ihrem Zelt, mitten im provisorischen Massencamp auf der Plaza Puerta del Sol in Madrid, und trinken ihren Morgenkaffee - Innenstädte haben den Vorteil, dass man den Coffee to go gleich nebenan bekommt. Andere Protestler schlummern noch in ihren Schlafsäcken. Junge Leute, die in Madrid seit einer Woche und in rund 40 Städten seit Tagen die Plätze okkupieren. Die Sätze wie "Yes we camp!" auf Zelte schreiben, Transparente und Flugblätter.

Das Bild wirkt friedvoll, aber das täuscht: Diese Camps sind ein Vorwurf. Ein lebender Vorwurf an die Regierung, die Nation, das System. Und ein Vorwurf, der streut. Überall auf der Welt versammeln sich Hunderte vor den spanischen Botschaften, um ihre Solidarität zu zeigen, auch in Hamburg.

Es sind nicht die Armen, die hier protestieren, wie 2005 bei den Banlieue-Aufständen in Frankreich. Auch die jungen Protestler des arabischen Frühlings, die sich mutig gegen Diktatoren und Sicherheitspolizisten zur Wehr setzen, geben den spanischen Empörten nicht mehr als einen wichtigen Impuls. Sie verbindet das Alter und die Organisationsform per Facebook und Twitter. Die schafft allerdings ein ganz eigenes Autonomie-Selbstbewusstsein: Keine Gewerkschaft, keine Jugendorganisationen von Kirche oder Parteien waren nötig, um solche Massen auf die Straßen zu bringen. "Niemand dirigiert uns, niemand steht an der Spitze", sagte ein 27-jähriger, arbeitsloser Informatiker in Madrid einem Schweizer Journalisten. "Es ist nicht so, dass niemand den Kopf des Ganzen kennen würde - es gibt einfach keinen."

Die Generation Finanzkrise steht auf. Führerlos, aber nicht kopflos. Der Kern dieser Protestbewegung - seit September in Irland, seit Dezember in Großbritannien, schon viel früher in Griechenland - ist in Europa selbst gewachsen, seine Gründe sind hausgemacht, systemisch. Um Wirtschaft, Banken und Währung zu retten, setzen die Regierungen auf harte Sparkurse. Spanien ist ein Paradebeispiel. Es muss (noch) nicht unter den EU-Rettungsschirm flüchten, aber die Einsparungen treffen alle: Beamte, Rentner, Kulturschaffende und Sozialarbeiter, Studenten. Die Studiengebühren in Spanien betragen zurzeit zwischen 500 und 850 Euro pro Studienjahr. Unter den 16- bis 25-Jährigen beträgt die Arbeitslosenquote 40 bis 45 Prozent. Wer in Spanien jung ist, kann nur auswandern - oder protestieren. Selbst der Internationale Währungsfonds spricht von einer "verlorenen Generation".

Was die Protestler umtreibt, ist das Nicht-zuhören-Können der Parteien. Die Folgen der Finanzkrise tragen nicht deren Verursacher, sondern das Volk - das soll Europas Antwort sein? Ist das alles? Die Parlamente der EU stimmten gesellschaftlichen Einschnitten zu, als gebe es keinerlei Alternativen. Europa kann Banken retten, aber es opfert die Hoffnungen seiner Jugend. Auf eine bezahlbare Ausbildung, einen Job, die Gründung einer Familie. Und es opfert den Glauben an die Demokratie. Was bleibt, ist Empörung.

Fast bizarr, dass dieses europaweit verstandene und empfundene Gefühl kein junger, sondern ein 93-jähriger Autor auf den Punkt gebracht hat: Stéphane Hessel, ehemaliger Widerstandskämpfer mit deutschstämmigen Eltern. Mit seiner Brandschrift "Empört euch!", seit Monaten ein europäischer Bestseller, spricht er dem Wutbürger aus der Seele, jenem Bürger, der immer dachte, der Staat sei für das Volk da. Und der jetzt sehen muss: Im "Erfolgsmodell Europa" regiert das Geld. Der Sozialstaat, die Solidarität, Gleichheit und Gemeinschaftsgefühl bleiben auf der Strecke. "Ich wünsche Ihnen allen, jedem von Ihnen, ein Motiv für die Empörung. Das ist wertvoll", schreibt Hessel und spielt auf seine eigene Vergangenheit in der französischen Résistance an: "Wenn Sie etwas derart empört, wie mich seinerzeit der Nazismus empört hat, dann wird man militant, stark und engagiert."

Stark und engagiert sind die jungen Spanier bereits. Doch es ist eine sehr andere Jugendrevolte als 1968: Zwar sehnt sich auch die Jugend 2011 nach Gerechtigkeit. Aber sie will auch Verlässlichkeit und Ordnung. "Das Antisystem sind nicht wir, sondern diejenigen, die das System zerstört haben", steht auf einem Spruchband in Madrid.