Andreas Dresens Film “Halt auf freier Strecke“ wurde in Cannes ausgezeichnet. Das Hamburger Abendblatt sprach mit dem Regisseur.

Cannes. Erst kamen die Tränen, dann die Trophäe: Andreas Dresen hat für das Drama "Halt auf freier Strecke" bei den Filmfestspielen in Cannes den Hauptpreis in der Sektion "Un certain regard" gewonnen. Der Film beschäftigt sich mit Leben und Tod anhand einer Krebserkrankung in einer Familie. Der 47-Jährige teilt sich die Auszeichnung mit dem Koreaner Kim Ki-duk.

Hamburger Abendblatt:Vor drei Jahren wurden Sie in Cannes mit den Worten "Willkommen in der Familie" begrüßt. Dieses Mal gab es einen Preis. Wie ist das, wenn man seinen Film hier sieht?

Andreas Dresen: Bei der ersten Vorstellung in Cannes habe ich wenig davon gesehen. Da war ich ganz und gar mit dem Herzen beim Publikum. Jedes Hüsteln könnte ja bedeuten, dass jemand etwas nicht mag. Manchmal verlassen Leute auch das Kino. Nicht, weil ihnen der Film nicht gefällt, sondern weil sie Termine haben. Da möchte man am liebsten jeden selbst befragen. Insgesamt war die Stimmung bemerkenswert, weil zu spüren war, wie sich alle auf die Leinwand konzentriert haben.

Dresen-Filme sind ehrlich, nehmen einen mit auf eine emotionale Reise. Haben Sie dieses Mal Angst, dass sich die Zuschauer verweigern könnten?

Dresen: Das will ich nicht ausschließen. Aber ich kann dieses Mal leider keine Brücken bauen, kann den Film nicht milde machen. Die Geschichte handelt vom Schicksal und vom Abschiednehmen. Da stemmt sich diese Familie gegen das Schicksal, so wie wir das alle versuchen würden. Sie verliert zwar zu guter Letzt. Aber sie verliert den Kampf mit einer Würde, die dem Zuschauer hoffentlich Achtung, wenn nicht gar Bewunderung abverlangt.

Der Zuschauer kämpft auch.

Dresen: Absolut. Durch diesen Kampf muss er durch. Aber mir geht das ja genauso. Wenn ich den Film sehe, leide ich mit. Aber ich denke, wenn man diesen Film durchgestanden hat, kommt man vielleicht mit einer anderen Haltung zum Leben wieder heraus.

In den Pressevorführungen passierte etwas Seltenes: Es wurde geheult, und Taschentücher wurden gezückt.

Dresen: Das war in der Premiere genauso. Das schönste und berührendste Erlebnis hatte ich gleich nach dem Ende des Films. Da kam eine Frau auf mich zu, lag plötzlich weinend in meinen Armen. Und ich war völlig hilflos. Dann habe ich zu ihr gesagt, dass mir das leidtut, dass ich Menschen nicht so unglücklich machen möchte. Darauf meinte sie nur, dass alles wunderbar wäre, und rannte von einem Moment zum anderen weg. Wenn ich eines bei diesem Film gelernt habe, dann ist es dieses: Weinen und Schmerz an sich heranzulassen ist nichts Schlechtes.

Klingt nach etwas Einfachem, das schwer zu machen ist.

Dresen: Das Befreiende ist ja, dass man danach wieder ans Licht tritt. Der Film endet mit einer Zuwendung ans Leben. Nachdem der Vater gestorben ist, sagt die Tochter: "Ich muss dann mal zum Training." Und der wunderbare Gisbert zu Knyphausen singt: "Das Leben lebt. Es ist ein wunderschöner Sommertag."

Wie sind Sie auf diese Idee gekommen, den Film jetzt machen zu wollen?

Dresen: Der Grundton von Trauer in meinem Leben war schon gesetzt. Ich hatte ein sehr hartes letztes Jahr, Trennung inklusive. Es gab viel Schmerz in meinem Leben. Dazu kommt, dass mit voranschreitendem Alter diese Themen an einen herantreten.

Gab es einen konkreten Auslöser?

Dresen: Das war ein Abendessen mit Cooky Ziesche, mit der ich schon etliche Filme gemacht habe. Sie hatte mir vom Tod ihres Vaters erzählt. Von der Trauer und wie friedlich er eingeschlafen ist. Und wie wir uns so unterhielten, kamen wir drauf, dass es so etwas als filmische Erzählung gar nicht gibt.

Wie viel Zeit haben Sie sich zur Vorbereitung genommen?

Dresen: Viel Zeit. Wir haben einige Monate damit verbracht, in das Thema einzutauchen. Wenn man antritt und sagt, dass man einen Film machen möchte, der sich ehrlich mit dem Sterben in Deutschland beschäftigt, dann muss man genau wissen, wovon man spricht. Ich habe gemeinsam mit Cooky ein halbes Jahr lang mit vielen Menschen gesprochen, die in den letzten Monaten und Jahren Freunde und Verwandte verloren haben. Wir haben Palliativ-Mediziner befragt, also Menschen, die sich um den Menschen in seinen letzten Tagen und Stunden kümmern. Wir waren im Gespräch mit Neurochirurgen.

Wie schwer war die ständige Beschäftigung mit dem Thema Tod?

Dresen: Im letzten Sommer gab es einen Moment, an dem ich aussteigen wollte. Dieses ständige Auseinandersetzen mit dem Thema, diese Geschichten, die wir immer und immer wieder gehört haben, das war sehr schwer auszuhalten. Wenn man mit den Menschen spricht und ihren Schmerz an sich heranlässt, gibt es Punkte, die einen verzweifeln lassen. Jetzt, wo der Film fertig ist, kann ich sagen, dass er mich erwachsener gemacht hat. Oder mich hat reifen lassen.

Die Situationen im Film ...

Dresen: ... beruhen fast komplett auf Erfahrungen, von denen uns Menschen erzählt hatten. Vielleicht geht der Film vielen auch deshalb so an die Nieren, weil sie vieles von dem, was sie da sehen, entweder selbst erlebt haben oder davon gehört haben, dass es so abläuft.

Die Ärzte im Film sind richtige Doktoren.

Dresen: Der Arzt am Anfang, der mitteilen muss, dass es keine Chance mehr gibt, der ist wirklich Arzt. Oder die Dame, die unseren sterbenden Frank begleitet, ist wirklich Palliativ-Medizinerin. Petra Anwar betreut in Berlin Menschen, die im Sterben liegen. Nach einer sehr anstrengenden Nacht bekam sie einen Anruf und sagte uns, dass gerade einer der Menschen gestorben ist. Und dass sie jetzt zu dessen Familie muss. Diese Frau kam mir manchmal wie ein Engel vor. Sie hat mich beim Drehen zum Weinen gebracht.