Max Frisch schrieb von sich und von uns allen. An diesem Sonntag wäre der “Autor des Identitätsproblems“ 100 Jahre alt geworden.

Enderlin, der Suchende, wartet am Flughafen auf seinen Flieger. Aber der verzögert sich, der Nebel in Hamburg ist schuld. Flight number seven-o-five hebt nicht ab. Enderlin hat eine Affäre mit einer Schauspielerin, und die wiederum hat mehrere Liebhaber. Aber davon will der Erzähler eigentlich gar nicht berichten (und macht es trotzdem). "Ihr wollt keine Geschichte. Kein Vergängnis. Keine Wiederholung", behauptet er. Wir lesen eine Urszene im Werk des großen Autors Max Frisch, der an diesem Sonntag vor 100 Jahren geboren wurde.

Die Stelle stammt aus "Mein Name sei Gantenbein", der Roman erschien 1964 und hat mehr als 30 Auflagen erlebt. Der Nebel über Hamburg ist der Nebel, der einen Schleier um so etwas Fragiles wie ein Menschenleben legt. Der Flug, der nicht abhebt, ist der Flug des Lebens, für den es ohnehin kein Ziel gibt. Gibt es ein Leben überhaupt, sei es exemplarisch, gewöhnlich oder beides? Max Frisch hat sich diese Frage stets gestellt und gerade in seinen Romanen verhandelt. "Jeder Mensch erfindet sich eine Geschichte, die er dann, oft unter gewaltigen Opfern, für sein Leben hält, oder eine Reihe von Geschichten, die sich mit Ortsnamen und Daten durchaus belegen lassen, sodass an ihrer Wirklichkeit nicht zu zweifeln ist", schrieb er einmal; Frisch gilt als der Autor des Identitätsproblems.

Wer man sein will und wer man ist, wer man für sich ist und zu wem man von den anderen gemacht wird: ein großes Thema. Für die Nachdenklichen unter uns, aber nicht nur. Jeder schnappt hin und wieder im Korsett sozialer Einbindungen nach Luft. Wenn jemand sich des Menschlichen, allzu Menschlichen so annehmen wie Frisch, wird die Frage nach Identität zum Mainstream-Motiv, zur Angelegenheit für Millionen.

Frischs Welterfolg schlägt sich in einer Gesamtauflage von zehn Millionen verkauften Werken nieder, seine Theaterstücke ("Andorra", "Biedermann und die Brandstifter") und die Romane sind seit Jahrzehnten Schullektüre. Das zeitlose Sujet des "Wer bin ich?" macht Frisch zum Dauerbrenner.

Es war eine existenzialistische Mode, nach dem Krieg Fragen der individuellen Existenz nachzuspüren. In der Schweiz lebte Ende der 40er-Jahre einer, der las wahrscheinlich nicht Sartre (er las nach eigenem Bekunden nie viel), arbeitete aber an einer Karriere als Schriftsteller. Hatte erst Germanistik studiert, freilich ohne das Studium zu beenden: Früher war das nicht anders als heute. Hatte dann Feuilletons für die großen Zürcher Zeitungen geschrieben, ambitionierte Erzähltexte und immer auch schon sehr Persönliches. Und dann, im Alter von 25 Jahren, doch den Weg des Vaters eingeschlagen: Max Frisch, 1911 in Zürich geboren, begann ein Architekturstudium. Seinem Vater hatte dieser Beruf am Ende seines Lebens, als der Erste Weltkrieg die Auftragslage versaut hatte, eine prekäre Existenz beschert, die Frischs waren arm. Max Frisch kam von unten, weshalb der Titel von Julian Schütts Beschreibung der frühen Jahre Frischs einige Berechtigung hat: Die "Biografie eines Aufstiegs" (Suhrkamp Verlag) lässt sich also anhand dieses ereignisreichen Lebens erzählen.

Dieses Leben wollte immer wieder neu aufbrechen, und so blieb der Versuch, einen bürgerlichen Beruf zu ergreifen, genau das: ein Plan. Frisch heiratete in eine angesehene Familie ein, wurde dreifacher Vater und Architekt des Freibads Letzigraben in Zürich (es war sein einziges großes Bauprojekt). In den 50er-Jahren wurde er Autor von Weltrang, der in Berlin, Rom und New York lebte, der ein Frauenheld war und immer wieder radikale Anfänge suchte. Der Angst hatte vor einer Verfestigung des Lebens, vor der Routine des Alltags.

Frisch hat den modernen, den unrettbaren und unbehausten Menschen (der nicht mehr unter dem Dach metaphysischer Geborgenheit lebt) wie kein anderer Schriftsteller nach dem Zweiten Weltkrieg zum Ausgangspunkt seiner Betrachtungen gemacht. Seine Helden wurden zu Symbolfiguren: Der Künstler Anatol Stiller aus "Stiller" (erschienen 1954), der behauptet, nicht der zu sein, der er allem Augenschein nach aber nun mal ist. Man legt ihm Beweise vor, man erzählt ihm sein Leben, doch er beharrt darauf: Ich bin das nicht. Und dann: Der Ingenieur Walter Faber aus "Homo Faber" (1957), der an den Fortschritt glaubt und die Rationalität und von einer unwahrscheinlichen Verkettung von Zufällen überwältigt wird. Er hat eine Liebesbeziehung mit seiner Tochter, von der er nicht weiß, dass sie seine Tochter ist. Schließlich: Der sich blind stellende Theo Gantenbein, der seine Umgebung täuscht und selbst nur eine Erfindung des Erzählers ist. Der wurde gerade von seiner Frau verlassen und "probiert Geschichten an wie Kleider". Die Identitäten sind nur Spielkarten in einem vertrackten Spiel, das offenlässt, was wahr ist und was nur eine Geschichte.

Max Frischs Bücher waren immer autobiografisch: das Unstete in seinen Figuren war das Unstete in ihm. Die Vorstellung, dass jemand die Geschichte seines eigenen Lebens aufschrieb, mochte er nicht. Das tat er ja selbst, mehr oder minder unverstellt. Er war allergisch gegen die falsche Schlüssigkeit, die jede Biografie vorgaukelt.

Die zweite Lebenshälfte Frischs, das Leben des Intellektuellen und Großschriftstellers, ist wohlbekannt: seine Beziehung mit der österreichischen Schriftstellerin Ingeborg Bachmann, seine Stellung als moralische Instanz. Die späten Jahre Frischs fallen in die Zeit, als Schriftsteller gehört wurden. Als man sich mit Wortsetzern und Nachdenkern schmückte.

Wie die SPD im Jahr 1977. Damals fand der Bundesparteitag der Sozialdemokraten in Hamburg statt. Günter Grass und Siegfried Lenz waren zu Gast; sie standen im Schatten von Max Frisch. Der hielt eine Rede und sprach die Delegierten als "Genossinnen und Genossen" an. Er wurde stürmisch gefeiert.

Man befand sich mitten im "deutschen Herbst", die RAF terrorisierte das Land, und Frisch forderte, auf den Terror "mit mehr Demokratie" zu antworten. Der damalige Kanzler Helmut Schmidt schätzte Frisch. "Ich fühlte mich zu Frisch hingezogen, es entstand eine Freundschaft aus der Distanz zwischen dem humanitären Moralisten, dem Schreiber Frisch, der ein idealistischer, wenngleich resignativ gestimmter Sozialist war, und dem praktisch handelnden sozialdemokratischen Bundeskanzler", rief er im April 1991 dem im Alter von fast 80 Jahren gestorbenen Frisch in der "Zeit" nach.

Im Bezirk des eigenen Ich war Frisch verschwenderisch, was seine Auskunftsfreude angeht. Das Los des Dichters, der vom Ich schreibt: Er lässt diese Figur, die er selbst ist (beziehungsweise: sein könnte), hinaus in die Welt. Im Alterswerk "Montauk" (1975) klagte er darüber: "Ich habe mir mein Leben verschwiegen. Ich habe irgendeine Öffentlichkeit bedient mit Geschichten. Ich habe mich in diesen Geschichten entblößt, ich weiß, bis zur Unkenntlichkeit. Ich lebe nicht mit der eigenen Geschichte, nur mit Teilen davon, die ich habe literarisieren können. (...) Ich habe mich selbst nie beschrieben. Ich habe mich nur verraten."