Seit die Fernsehnation gucken kann, ist Paul Kuhn da gewesen. Musikalisch gehört er sowieso zu denen, die niemals wirklich altern.

Es ist sein Gesicht, in das man sich verguckt. Ein Gesicht voller Falten und Altersflecken. Paul Kuhn spielt am Klavier vor sich hin, und plötzlich hebt er dieses Gesicht mit einem etwas entrückten, nachsichtigen Lächeln zwischen all den Falten. Es scheint zu sagen: Nimm dich mal nicht so wichtig, hörst du das hier? Was uns aufbaut im Leben, trotz alledem, ist die Musik.

83 Jahre alt ist er, ein Urgestein der Nachkriegs-Unterhaltungskultur. Und jetzt sieht man ihn in einer Hauptrolle im Kino, in "Schenk mir dein Herz", der in Hamburg gedrehten Tragikomödie um einen angeschlagenen Schlagerstar (Peter Lohmeyer), der in der Reha-Klinik auf diesen freundlichen alten Mann stößt. Showfuzzi trifft auf Altersweisheit. Das Publikum bei der Premiere am Montag im Abaton-Kino feierte Paul Kuhn für seine Rolle mit Standing Ovations - wie schon ein halbes Jahr vorher beim Filmfest.

In seinem Hotelzimmer am Holzhafen steht kein Flügel, und für einen Moment erwägen wir, gegenüber in den Schellfischposten zu gehen, damit er sich beim Interview an vertrauten Tasten festhalten kann. Paul Kuhn umgibt eine Glocke der Fürsorglichkeit, das gesamte Film-PR-Team achtet darauf, dass sich "Paulchen" warm anzieht, nicht zu viele Treppen steigt und zeitig ins Bett kommt. Jetzt sitzt er auf dem Sofa, und man gewinnt im Gespräch den Eindruck, dass er viel strapazierfähiger ist als andere annehmen. Er weiß ganz genau, was er sich zumuten kann.

Zum Beispiel die Zigaretten. "Schenk mir dein Herz" ist einer der wenigen Filme, in denen noch geraucht wird - von den alten Jazzern nämlich. "Nein", winkt er ab, "ich habe das Rauchen vor sechs Jahren nach einer Herzoperation aufgegeben." Also musste er extra für den Film wieder anfangen? Man hört förmlich schon die Kardiologen-Proteste ... "Das war aber nicht schlimm", sagt er. "Ich habe mich darauf gefreut, dass ich da ein paar Zigaretten rauchen konnte. Die Szenen mussten beim Drehen wiederholt werden und noch mal und noch mal, dann wird geschnitten, 'muss das jetzt noch mal?' 'Ja, das muss noch mal ...' 'Moment jetzt' - wieder eine Zigarette ... Also ich habe in dem Film mit Freuden geraucht. Aber es ist nicht so, dass ich jetzt nicht mehr ohne Zigarette sein kann. Es macht mir nichts aus, nicht zu rauchen." Paul Kuhn hat diesen unverwechselbaren Erzählstil: Er spricht in Dialogen, seine Hände reden mit.

Auf dem Couchtisch liegt seine orange eingefärbte Brille. Der Sehnerv ist so angegriffen, dass er keine Noten mehr lesen kann. Er habe verschiedene Therapien ausprobiert, erzählt er, auch chinesische Heilkundeverfahren. "Manchmal wurde es ein bisschen besser am selben Tag, aber am nächsten war wieder alles beim Alten."

"What A Difference A Day Makes" - im Alter passt dieser schöne alte Jazz-Titel, bezogen auf die Zipperlein. "Ja", sagt er und lacht. "Aber auf der Bühne denke ich nicht daran. Wenn ich Musik mache, geht's mir einfach gut." Er muss sich nur ans Klavier setzen, den Rest wissen die Finger von allein, auch ohne Noten. Ein Talkmaster fragte ihn, wie viele Jazz-Standards er fehlerfrei spielen könne, selbst wenn er angesäuselt sei. "Och, eigentlich alle", antwortete Kuhn ganz cool. Wie viele gibt es überhaupt? Ein Jazz-Lexikon nennt mehr als 550, die immer neu interpretiert werden. Die meisten spielt Paul Kuhn wie im Schlaf. "Man hört immer wieder einen, den man noch nicht kannte: 'Ist der neu?' 'Nein, der ist von 1924.' Das ist wirklich so." Diese Standards, sagt er, habe er am liebsten. "Die haben mehr Gehalt als die neuen Sachen. Auch heute erscheinen nur sehr wenige neue Titel mit der Qualität eines Standards, der lange hält. Es kommen immer mal junge Musiker begeistert an: 'Ich hab einen Titel, ich spiel ihn dir mal vor!' 'Ach, kenn ich, kenn ich.' Meistens sind es alte Sachen, die wieder mal neu bearbeitet sind. Ich kann 'Lady Be Good' jeden Tag spielen, und jeden Tag ist es eine andere Version. Einem guten Titel schadet das nicht."

Paul Kuhn ist mittlerweile selbst ein lebender Jazz-Standard. Nach dem Krieg begann er als Pianist in den Klubs der amerikanischen Besatzer. Als Deutschland in den 50ern und 60ern seine eigene Unterhaltungskultur entdeckte, vermischten sich in der Tanzmusik Jazz, Swing und Schlager, und Kuhn mischte als Leiter der Bigband des Senders Freies Berlin 1968 bis 1980 kräftig mit. Danach kehrte er zum Jazz zurück, gründete sein eigenes Trio, tourte auch mit einer Best-Band.

Kein Wunder, dass man bei Google (neben "Paul Kuhn Baumaschinen" in Verl) Dutzende YouTube-Videos über den Musiker Paul Kuhn findet, Konzertmitschnitte und Szenen aus sage und schreibe sechs Jahrzehnten. Zum Beispiel sieht man ihn in einer Szene des Heinz-Ehrhardt-Films "Drillinge an Bord" (1954), einer turbulenten Verwechslungskomödie um drei erwachsene Zwillingsbrüder (alle gespielt von Ehrhardt). "Ja, das geistert immer noch herum", sagt er, als könne er es selbst nicht fassen. Der Komponist Heino Gaze, der die Filmmusik schrieb, hatte seinen Freund Paul Kuhn gefragt: Hättest du Lust, einen Film zu machen? "Ich sage: 'Wie, zu machen?' 'Na, die Bearbeitung der Musik! Du stoppst den Film, hörst dir das an, siehst zu, was du brauchst an Instrumenten und so, mach's nicht so teuer.' Es war auch ein Schlager drin: ,Charming Boy'. 'Könntest du doch singen', sagt Gaze, 'mach mal.'" Kuhn machte, sang, und "Drillinge an Bord" wurde ein Kino-Erfolg. Im selben Jahr spielte sich Kuhn mit dem Evergreen "Der Mann am Klavier" in die Gehörgänge der Deutschen: "Geben Se dem Mann am Klavier / noch 'n Bier ..."

Ein anderer Fan hat das Cover einer Columbia-Platte von 1956 in YouTube gestellt: Der Titel "Die blauen Wildlederschuhe", gesungen von Paul Kuhn, war nichts anderes als die deutsche Adaption von Elvis Presleys "Blue Suede Shoes". Kuhns Augen leuchten auf. "Dass es von Presley war, habe ich erst später erfahren. Der war damals hier noch gar nicht angekommen."

Bei Frauen hatte Paul Kuhn einen Schlag. Dreimal hat er geheiratet, die dritte Ehe - mit der Sängerin Ute Mann - hält seit 1988. Gekannt hatten sie sich schon lange, näher kamen sie sich im Mai 1979 bei einer Portugal-Tour. Und wenig später in Warschau - wo die Leiterin der Ute Mann Singers mit Udo Jürgens und Paul Kuhn mit der SFB-Big Band gastierten - hat es dann gefunkt. Kinder hat er nicht, "das hat sich nicht ergeben, obwohl ich Kinder sehr gerne habe."

"As Time Goes By", "My Way" ... Mit solchen Songs sorgte Paul Kuhn in Deutschland für ein bisschen Carnegie-Hall-Feeling. Frank Sinatra sei für ihn " der Sänger des amerikanischen Songbooks schlechthin" gewesen, sagt er. Leider lernte er ihn nie kennen. Aber es gibt eine Anekdote aus einer Hotelbar in Köln: Kuhn saß dort und schrieb Autogramme für eine lustige Truppe von Fans, Sinatra stand an der Bar und wirkte etwas angetrunken. "Der guckte immer rüber zu mir", erinnert sich Kuhn, "und er sagte zu einem Betreuer : 'I know that guy.' Er wurde aber so abgeschirmt, dass es nicht zu einer Unterhaltung kam."

Nur wenige Musiker sind bis ins hohe Alter musikalisch alterslos. Dazu gehört Johnny Cash, der neun Jahre vor seinem Tod noch eine Zusammenarbeit mit dem Rap-Produzenten Rick Rubin startete und mit jungen Rockbands musizierte. "Den habe ich sehr geschätzt", sagt Kuhn. Oder James "Hansi" Last, der an neuen, sehr trendigen Arrangements bastelt und mit 82 nicht zur Kur, sondern auf Tour geht.

Auch Paul Kuhn hat in seinem Leben keine Berührungsängste gehabt. Sein großes Vorbild als Arrangeur ist Count Basie. Es gibt keinen Glenn-Miller-Titel, den er nicht gespielt hat. Genauso hat er mit deutschen Filmmusikern und Schlagerproduzenten gearbeitet. Legendär sind seine Auftritte mit Harald Juhnke und Peter Alexander. Mit Mario Barth nahm er die CD "Mensch Berlin" auf. Für "Schenk mir dein Herz" hat er jetzt einen traumschönen Blues und einen Bossa nova komponiert, die Texte schrieb Bernd Begemann.

Derzeit erleben Jazz und Swing eine Renaissance. Dies resultiert vielleicht aus einer Sehnsucht nach dem Echten, Nichtelektronischen, nach alten Bars, in denen man in Ruhe dem Weltschmerz nachhängen kann; bis man plötzlich von einem Saxofon-Solo wiederbelebt wird. Für die Renaissance stehen nicht nur Sängerinnen wie Joss Stone, Lisa Bassenge, Silje Nergaard oder Diana Krall, sondern auch Michael Bublé oder Roger Cicero. Kuhn beobachtet das junge Treiben mit milder Nachsicht: "Es gibt junge Männer, die in meine Fußstapfen treten könnten. Ich kenn sie bloß nicht." Götz Alsmann, das wäre einer nach seiner Façon: ein Jazz- und Bebop-Traditionalist, dabei vielseitig in Pop und Chanson ausfransend. Alsmann und "Hansi" Last überreichten Kuhn 2010 in Bochum den Echo Jazz für sein Lebenswerk als Pianist, Komponist und Dirigent.

Mit 83 muss einer wie Paul Kuhn leider mit ansehen, dass sich die Reihen der alten Mitstreiter lichten. Vor Jahren sagte er, er hätte gerne ausgesehen wie Cary Grant (gestorben 1986). Oder wie Peter Alexander, der in vielen gemeinsamen Tourneen ein enger Freund wurde (gestorben im Februar 2011). "Ich war mit meinem Trio überall, nur nicht in Wien, und ich dachte immer: Da muss ich mal hin, der Peter wird sich freuen, der spielt doch gerne Jazz und steht darauf. Endlich bekamen wir einen Anruf, wir sollten in Wien in dem Club ,Porgy and Bess' spielen. Und dann ist er, kurz bevor wir hinkamen, gestorben. Das hat mich sehr erschüttert."

Gibt es etwas, das er absolut nicht leiden kann? "Es gibt so Momente, wo Sinfonie-Orchester Jazzstücke oder Pop-Zeug spielen - unerträglich. Das kann man nicht machen." Und gibt es etwas, das er nicht noch mal machen würde? Langes Nachdenken. "Hm." Dann lächelt er wieder, nachsichtig-listig. "Also wenn ich mal was machen würde, was ich nie machen wollte, dann ruf ich Sie an."

Der Film "Schenk mir dein Herz" läuft im Abaton-Kino, Allende-Platz 3 (Metrobus 4, 5).