In seinem linken Knie herrscht jetzt die Meniskus-Krise. Autor und Kabarettist Kerim Pamuk ist 40 und hat die Hälfte seines Lebens hinter sich.

Phrasen und Sprüche sind eine schöne Sache. Sie sind das Dressing in unserem Wortsalat und sorgen für einen reibungslosen Ablauf in der Kommunikation. Es gibt großartige wie "So, wie du arbeitest, würde ich mal gerne Urlaub machen", und oft sollen sie auch trösten und machen dadurch das eigentlich Trostlose nur noch offensichtlicher.

Besonders Allgemeinplätze über das Alter und das Altern gehören in diese Kategorie. Man soll ja "so alt sein, wie man sich fühlt", mit dem Alter soll man "reifer, ruhiger, vernünftiger" werden. Ich befinde mich gerade - optimistisch geschätzt - am Anfang der zweiten Hälfte meines Lebens und kann bestätigen, dass sämtliche das Altern verklärende Volksweisheiten Quatsch sind. Und wenn ich faltige, geschminkte Mumien sehe, die in Talkshows über die Schönheit des Sex jenseits der siebzig schwadronieren, kann ich bestätigen, dass alle Sprüche über die Vorteile des Älterwerdens absoluter Quatsch sind.

Nur zwei Phänomene des Alterns konnte ich bisher zweifelsfrei feststellen. Sie sind die exakte Umkehrung des alten Lateinerspruchs "Mens sana in corpore sano". Mit zwanzig wäre es mir nie eingefallen, über meine Gelenke zu sprechen. Sie waren da, erfüllten ihre Aufgabe und muckten sonst nicht auf. Inzwischen doppelt so alt, kann ich sie hören, und mein linkes Knie zum Beispiel ist das Ebenbild der Nahost-Krise. Täglich gibt es Neuigkeiten, selten gute und nichts wird besser, wobei mein Meniskus dem Land der Palästinenser ähnelt. Er wird Stück für Stück weniger, weil bisher noch jeder Orthopäde meines Vertrauens seine Untersuchung mit dem obligatorischen "Da müssen wir ein Stück entfernen und den Rest glätten" abschloss.

Noch deprimierender ist es zu sehen, welchen großen Raum das Thema Verdauung in meinem Alltag einnimmt. Als Jungspund war ich ein glücklicher Allesfresser, der zu jeder Tages- und Nachtzeit schwerste Kost vom triefenden Dönerteller bis zum zwei Pfund schweren Bauernfrühstück in seinen Magen schaufeln, dazu Unmengen von schwarzem Tee trinken und danach trotzdem wie ein junger Gott schlafen konnte. Und niemals, wirklich niemals über "gesunde Ernährung", "Ballaststoffe" oder "Verdauung" sprach. Ich bin mir auch sicher, dass diese Begriffe in meinem Wortschatz nicht vorkamen. Ballaststoffe und Verdauung waren die Sache alter Säcke und mit gesunder Ernährung beschäftigten sich nur sensitive Weicheier. Mit alldem hatte ich nichts zu tun, ich aß und sehr oft fraß ich.

Inzwischen ertappe ich mich des Öfteren beim Smalltalk über "gesunde Ernährung" und mir gehen im Alltag Floskeln über die Lippen, für die ich mich gleich im Anschluss furchtbar schäme: "Mir ist jetzt nach was Leichtem", "Danach kann ich bestimmt nicht mehr schlafen" oder "Ein kleiner gemischter Salat wäre jetzt schön". Erbärmlich. Ganz undeutsch lehne ich mich manchmal gegen mein Schicksal auf und esse aus Prinzip nachts um zwei einen riesigen Dönerteller bei meinem Lieblingstürken, der ein Kurde ist, und zahle selbstverständlich mit einer schlaflosen Nacht und Sodbrennen. Den gesamten Vormittag ist mir dann kotzübel, aber so viel sind mir die Spurenelemente meines jugendlichen Reststolzes noch wert.

Bis heute habe ich nicht kapiert, was der Kreislauf ist. Vermutlich habe ich einen, was da aber in meinem anfangsmorschen Körper im Kreis laufen soll, erschließt sich mir nicht. Ich kenne Blutkreislauf, Schwindelgefühle, und wenn ich den Worten meiner Umwelt Glauben schenke, bilden Geist und Fleisch selbst bei mir eine Einheit, die wiederum mit meinem Kreislauf auf mysteriöse Weise vereint ist. Aber woraus diese Einheit besteht? Keine Ahnung. Dennoch werden mir ständig Kreislaufprobleme attestiert.

Wenn ich schwer aus dem Bett komme (auch das gab es in meiner Jugend nicht, denn wenn ich mal schwer im Bett war, blieb ich konsequenterweise gleich liegen!), nichts essen mag oder nach einer Minute Treppensteigen schwitze, heißt es sofort: "Das ist bestimmt dein Kreislauf!" Okay - und jetzt? "Du musst mehr trinken, du musst mehr Sport machen" sind noch Tipps aus der seriösen Sorte. Gegen das Bündel an heißen Tipps zur Beschleunigung und Stabilisierung meines Kreislaufs, das dann im Anschluss noch folgt, ist jeder Widerstand zwecklos.

Immerhin habe ich verstanden, welche körperlichen Gebrechen dem Kreislauf zugeschrieben werden. An allem, was nicht klaffend blutet oder gebrochen ist, was aber trotzdem schmerzt, ist der Kreislauf schuld. Vermutlich ist die Ursache vieler vergangener Kriege in den Kreislaufproblemen der jeweiligen Könige und Diktatoren zu suchen.

Soweit ich es beurteilen kann, ist mein Geist noch recht gesund und fidel, er entwickelt aber eine Haltung, die mir teils Sorge und teils Freude bereitet. Sorge bereitet mir meine sukzessive größer werdende konservative Einstellung, Freude hingegen die reaktionären Auswüchse darin. Bis zu meinem 30. Geburtstag fand ich die Achtziger, das Jahrzehnt meiner Jugend, in allen Facetten grauenhaft. Inzwischen finde ich sie gar nicht so übel, und in zehn Jahren werde ich sie wahrscheinlich fabelhaft finden. Nicht weil ich schon an einsetzender Geschmacksverirrung leide, denn selbst Leute, die dieses Jahrzehnt größtenteils unser dem Einfluss synthetischer Drogen und Alkohol verlebt haben, werden bestätigen, dass die Achtziger ästhetisch betrachtet unter allen Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts mit Abstand die scheußlichsten waren. Schulterpolster, Dauerwelle und fein säuberlich aufgekrempelte Karottenjeans verstoßen für mich bis heute gegen die Genfer Konvention. Dennoch mag ich die Achtziger, mitnichten war damals einiges besser, aber etliches einfacher.

Der Russe war böse, der Ami war gut, statt vor "Heuschrecken" hatte man vor dem Atomkrieg Angst und Walken hieß Spazieren. Es gab noch keine frei laufenden Hühner, sondern ordentliche Legebatterien, Ernährung war keine Wissenschaft sondern eine Notwendigkeit. AEG, Blaupunkt und Telefunken waren deutsche Weltmarken, nicht Fälle für den Insolvenzverwalter. Mercedes baute noch Autos, die vor Elchen keine Angst hatten. Es gab kein ganzheitliches Denken, sondern einheitlich hässliche Mode, ein Mann musste kein Verständnis, sondern Brusthaare haben und Geburt war Frauensache. Die Erde war groß und unergründlich, nicht ein globales Dorf. Man hätte jeden, der täglich mehrmals "googelt" wegen anhaltender Halsschmerzen zum HNO-Arzt geschickt. An diesem schlichten und provinziellen Weltbild finde ich immer größeren Gefallen.

Dabei fühle ich mich durch technische Errungenschaften der Gegenwart keinesfalls permanent überfordert, ich kann Stunden mit den total "revolutionären", neuen Funktionen meines iPhones verschwenden, wissend, dass ich sie niemals brauchen werde. Aber mich nerven manche Komponenten unseres Zeitgeistes. Ich will nicht ewig jung bleiben, ich will eines Tages als alter Patriarch respektiert werden und nicht mit halb so alten Männern über Fitness quatschen müssen. Sollte man mich jemals mit einer lächerlichen Leggins bekleidet und zwei Nordic-Walking-Stöcken im Park erwischen, darf man mich getrost entmündigen.

Für meine Kinder will ich kein Partner sein, kein "cooler Dad", den sie "Kerim" rufen dürfen, sondern ihr Papa, ihr Chef. Ich bin gerne Chef. Weder werde ich mit ihnen den ersten Alkohol trinken, noch den ersten Joint rauchen. Sie müssen mich nicht lieb haben, sie können mich beizeiten gerne hassen. Genauso wenig werde ich sie "aufklären" und ihnen jedes Verbot, das ich ausspreche, lang und breit erklären. Ich will ihnen zumindest den Teil an Geheimnissen und Verboten lassen, den ich ihnen heutzutage noch lassen kann. Weil ich immer noch nichts Schlechtes an den zwei Dingen finden kann, die meine Kindheit und Jugend ausgemacht haben, Auflehnen und Entdecken.

Ich bewundere die alten Haudegen Hollywoods wie Robert Mitchum, Kirk Douglas, Humphrey Bogart. Sie waren männlich, wortkarg, unrasiert, führten keine Beziehungsgespräche und mussten sich nicht "in ihrem Rollenverständnis neu definieren". Sie mussten nicht "zuhören und zärtlich sein", sie mussten zuschlagen und schießen, wenn es drauf ankam. Die heutigen metrosexuell "angetouchten" Fußball- und Musikstars, die mit rasierter Brust, gerupften Brauen und glitzernden Diamanten im Ohr umhergockeln, würde ich am liebsten zur Wiederentdeckung ihres eigentlichen Geschlechts in ein nordkoreanisches Militärcamp stecken.

Diese schreckliche Feminisierung hat selbst die Mauern der letzten rein männlichen Bastionen geschleift. Jeder "moderne" Fußballlehrer mit schickem Sakko und gefärbten Haaren doziert über "flache Hierarchien", seine "Spielphilosophie" und "proaktives Spiel". Als würde er nicht elf junge Männer trainieren, die in kurzen Hosen einem Ball hinterhecheln, sondern einen Konzern führen.

Keiner dieser mit reichlich "soft skills" ausgestatteten Halbmodels kann meinem ewigen Trainerhelden Ernst Happel das Wasser reichen. Happel war ein mürrischer alter Österreicher, der während des Spiels schweigend und ketterauchend auf der Trainerbank saß. Egal ob seine Mannschaft haushoch gewann oder eine demütigende Niederlage einsteckte, sein Gesicht zeigte keine Regung. Mit dem Schlusspfiff drückte er die letzte Zigarette aus und ging schnurstracks in die Kabine. Er gab kaum Interviews, trug kein lächerliches Werbelogo am Revers und erzählte kein dummes Zeug wie etwa, dass "jede Niederlage irgendwo auch eine Chance" ist.

Überhaupt kann ich diesem Positivismus nicht viel abgewinnen, dieser Umdeutungs- und Umbenennungsmanie. Was ist daran verkehrt, wenn man die Dinge beim Namen nennt? Eine Niederlage ist erst mal eine Niederlage, keine Chance, sie frustriert und deprimiert. Wenn sie eine Chance wäre, würde sie auch so heißen. Ein Türke ist auch kein Mensch mit Migrationshintergrund, sondern ein Türke. Jemand, der sich zukünftig nur noch auf seine "Kernkompetenz fokussieren" will, leidet einfach an Selbstüberschätzung. Der Glaube, alles Negative oder Niederschmetternde würde sich in Wohlgefallen auflösen, wenn man es nur positiv betrachtet, treibt manchmal die seltsamsten Blüten. Es gibt nicht wenige Esoteriker in diesem Land, die zum Beispiel in einem tödlichen Krebstumor nur ein Signal sehen. Ein Signal, das der Körper aussendet, weil der Kranke wohl nicht im Einklang mit sich selbst und dem Kosmos gelebt hat, er in gewissem Maße also selber schuld ist an der Krebserkrankung. Ist es sehr reaktionär, wenn man so einem Globuli-Hansel viele Signale des Körpers wünscht?

Unter Altersgenossen beiderlei Geschlechts lösen meine gesammelten Erkenntnisse über das Jungbleiben, zur Ernährung und Erziehung, zum männlichen Rollenbild und positivem Denken oft Irritationen, noch öfter Kopfschütteln aus und werden als "von gestern" abgekanzelt. Was mich nicht stört, denn ich tröste mich mit den Worten des Schriftstellers und Schauspielers Curt Goetz: "Wer in einem gewissen Alter nicht merkt, dass er hauptsächlich von Idioten umgeben ist, merkt es aus einem gewissen Grunde nicht."