Teofila Reich-Ranicki war nicht einfach nur die Frau neben ihm. Sie war eine große Dame, der leise feste Anker. Ein persönlicher Abschied.

Hamburg. Ende Mai 1994 war das Literarische Quartett in Leipzig, wurde aus dem imposanten Rathaus der Messestadt gesendet. Es war die 31. Sendung. Am nächsten Tag flog ich mit Marcel Reich-Ranicki im selben Flugzeug nach Frankfurt. Er war von einer ungewöhnlich melancholischen Stimmung, was ich verstand, denn er war, ich glaube das erste Mal, seit die Sendung vor einem Publikum stattfand, ohne seine Frau Teofila angereist.

Beim Rückflug seufzte er und fragte mich, ob ich denn nicht auch der Ansicht wäre, es sei nun an der Zeit, mit der Sendereihe Schluss zu machen. Sie liefe jetzt ja immerhin seit 1988, also sechs Jahre. Ich war überrascht, aber dann sagte ich so etwas wie, dass man aufhören solle, wenn etwas am besten schmecke. Was man so sagt, wenn man sich überrumpelt fühlt. Er ging darauf nicht ein, sondern sagte mir mit ungewöhnlicher Offenheit, er mache sich Sorgen um Tosia, um seine Frau. Sie sei sehr krank, und er wolle sie nur ungern alleine lassen.

Jetzt erst verstand ich, dass er sich nicht nur größte Sorgen um sie machte, sondern dass er ihr zuliebe und aus Angst um sie die Sendung Knall auf Fall aufgeben wolle. Er, dem nichts wichtiger war als der Auftritt und die Diskussionen im Rampenlicht des Fernsehens, dieser inzwischen zur Institution avancierten Sendung; er, der wie ein Bühnenstar oder wie ein Zirkuspferd aufblühte und aus einer versunkenen Haltung zu blitzender Lebendigkeit erwachte, sobald das Beethoven-Motiv erklang, hätte diese Sendung, sein Lebenselixier, mit einem Handstreich gelöscht - wäre seine Frau nicht mehr in der Lage gewesen, ihn zu begleiten.

Tosia Reich erholte sich glücklicherweise damals sehr schnell, und Reich schien vergessen zu haben, dass er je erwogen hatte, die ZDF-Sendung zu beenden. Sie lief dann noch bis Dezember 2001. Und Reichs Frau war jedes Mal dabei, saß vorne, still, manchmal wie in sich zusammengesunken, aber in Wahrheit hellwach, wie sich in den anschließenden Diskussionen und Nachgesprächen herausstellte. Ihrem Mann und uns anderen eine Stütze, die nie schmeichelte, aber auch nie an seiner Arbeit zweifelte.

Die beiden waren, unauffällig aber bestimmt, füreinander da; jeder gab dem anderen Halt, ein Paar, das sich seit dem Kennenlernen im Warschauer Getto unter den bedrohlichsten, schrecklichsten, tödlichsten Umständen immer aufeinander verlassen konnte, verlassen wollte, verlassen musste. Auf einmal war mir klar, dass es das Beethoven-Quartett, das die Sendung als Leitmotiv eröffnete und das die beiden seit den Tagen im Getto kannten (er war ja da Musikkritiker), ein Zeichen, ein Liebessignal auch an sie war.

Ich hatte das Glück, dass die zierliche Frau, die gerne und still charmierte und sich das Lächeln eines Mädchens bewahrt hatte, das sich zu einem Zeichen spöttischer Ironie verwandeln konnte; dass diese Frau einen Zugang zu mir hatte, den er im Grunde mit ihr nicht von Anfang an teilte. Dazu schien er zu rigoros und leidenschaftlich nur der Literatur und dem Theater zugetan. Was sie mit mir verband, war ihre Liebe zum Kino und zu Filmen, die ich auch liebend beschrieben hatte, also zu Billy Wilder, zu Ernst Lubitsch, später auch zu Woody Allen beispielsweise.

Wir unterhielten uns, wenn ich die beiden in Frankfurt besuchte und meine Frau und ich sie bei Urlaubstagen an der Ostsee heimsuchen durften, sozusagen hinter seinem Rücken über das Kino - bis, ja bis wir 1993 gemeinsam in Spielbergs Getto-Film "Schindlers Liste" gingen. Wir saßen zu viert nebeneinander in der deutschen Premiere und blieben beieinander nach der Premiere an einem Tisch im "Frankfurter Hof". Er taute auf, erzählte von seinen Getto-Tagen, lebendig, anrührend und immer wieder auch in Blicken an sie gerichtet. Und als ich sagte, das müsse er aufschreiben, mischte sie sich energisch ein: Ja, ja, sie versuche ihm das schon seit Jahren beizubringen, dass er das aufschreiben müsse.

Daraus ist dann das Buch "Mein Leben" entstanden, ein Welterfolg, der auch die Geschichte einer Liebe ist: Ein Mann, nämlich Marcel Reich-Ranicki, übernahm nach dem Selbstmord von Teofilas Vater, der sich aus Scham über seine Demütigung als Jude erhängt hatte, ihr Schicksal als seines, wie sie auch seines teilte. Bei solchen äußeren Umständen hat man etwas erfahren, was niemand mit den beiden teilen, niemand aber beiden je wegnehmen kann.

Im Laufe der folgenden Jahre kamen so anmutend bewegende Details hinzu, zum Beispiel, dass sie für ihn Erich Kästners "Hauspostille" im Getto illustriert und kalligrafisch kopiert hatte - ein Liebesbeweis von leise eindringlicher Kraft. So haben die beiden, die auch dann zwei waren, wenn man mit ihm allein telefonierte (ab und zu hörte man ihn "Kochanie!", also "Liebste!", auf Polnisch zu ihr sagen, während wir miteinander sprachen), nie viel Wesens von ihrer Ehe gemacht. Wie sie auch in der fürsorglichen Liebe ihres Sohns, der, inzwischen ein berühmter englischer Mathematik-Professor, liebenswürdig zerzaust neben dem wie aus dem Ei gepellten Ehepaar wirkte, einen Spiegel fand.

Ich habe einträchtigere Paare als ihn und seine Frau eigentlich nie erlebt. Sie schwieg, kramte emsig und suchend in ihrer Handtasche, fand eine Zigarette, rauchte pausenlos, aber wenn er etwas nicht wusste, einen Namen vergessen hatte, eine Jahreszahl, wenn er Unterstützung brauchte, war sie sofort hellwach zur Stelle: Er konnte sich auf sie verlassen. Sie war nicht die Frau neben ihm, sondern beide ließen sich nicht auseinanderdenken. Sie war ein leiser fester Anker für seine überschwappende, stürmische Unruhe und Lautstärke. War sie dabei, wusste man, dass man sich mit ihm wohlfühlen würde. Sie würde dafür sorgen, still und bestimmt, hausfräulich und mütterlich gewiss nicht, dazu hielt sie bei aller Herzlichkeit zu sehr wohltuend damenhafte Distanz. So war sie selbst in Moment der Selbstversunkenheit das geheime Zentrum jeder Gesellschaft der beiden.

Ich weiß noch das Glücksgefühl, als sie mich nach meiner Rede zu seinem 90. Geburtstag in der Jüdischen Gemeinde so richtig herzte und drückte und küsste. So aufgenommen zu werden war ein seltener, kostbarer Augenblick. Es gibt einen kurzen Fragebogen von ihr über das Verhältnis zu ihm, ihre Antworten sind von trockenem, selbstverständlichem Besitzgefühl.

"Warum haben Sie sich in ihn verliebt?", wird sie gefragt. "Weil er klüger war", antwortet sie. "Fanden Sie ihn damals attraktiv?" "Überhaupt nicht", sagt sie. "Im Fernsehen redet Ihr Mann so viel - kommen Sie je zu Wort?" "Ich unterbreche ihn schon mal." "Welche Rolle spielt er zu Hause?" "Er ist der Chef. Aber ich nehme das nicht so ernst." Und schließlich: "Sind Ssie eifersüchtig?" "Ich bin nicht der eifersüchtige Typ. Außerdem, in einem langen Leben passiert ja so viel." Antworten einer weisen, kleinen Frau, großen Dame.

Jetzt, wo es Tosia Reich nicht mehr gibt, bedauere ich sehr, selbst in einem Alter angekommen zu sein, wo ich manchmal zu feige war, um mich oft genug nach den beiden zu erkundigen. Aber Frau Teofila Reich wird mir wirklich fehlen. Das ist das Schlimmste am Alter, man wird von Tag zu Tag ärmer. Eigentlich kannte ich so ein Paar wie Marcel Reich-Ranicki und Tosia Reich nur noch einmal: Helmut Schmidt und Loki Schmidt. Aber die kannte ich nur aus größter Distanz und weitester Ferne. Tosia und ihren Mann aus nächster Nähe.