Der thailändische Film “Onkel Boonmee“ gewinnt in Cannes die Goldenen Palme. Der Kinofilm trägt eine weltweit wohl einzigartige Handschrift.

Cannes. Es kann durchaus sein, dass zum ersten Mal in der 63-jährigen Geschichte des Festivals von Cannes die Jury die Goldene Palme einem Film überreichte, den sie nur teilweise verstanden hat. Das wäre nichts Ehrenrühriges. Kaum einer im Westen versteht die Filme des Thailänders Apichatpong Weerasethakul wirklich, der in der Nordostregion seines Landes nahe der Grenze zu Laos aufwuchs. Aber die Jury - acht Mitglieder aus dem christlichen Kulturkreis und ein in London lebender Inder - hat den Mut gehabt, ihrem Instinkt zu folgen: "Onkel Boonmee" trägt eine Handschrift, die im Kino weltweit wohl einzigartig ist - für manche ist sie hypnotisch, andere wissen rein gar nichts mit ihr anzufangen.

Der volle Titel "Onkel Boonmee, der sich an seine früheren Leben erinnern kann" deutet die Richtung an. Boonmee ist schwer krank und möchte seine letzten Tage im Kreis der Familie in der Natur verbringen. Beim Essen auf der Veranda erscheint plötzlich der Geist seiner längst verblichenen Frau, und bald sitzt auch der bei einem Unfall ums Leben gekommene Sohn am Abendbrottisch.

Das Bemerkenswerte ist die Alltäglichkeit, mit der Weerasethakul diese Erscheinungen behandelt. Boonmee und seine Lieben sind nur milde erstaunt, akzeptieren die durchsichtige Ex-Gattin so selbstverständlich wie den Sohn, der im Körper eines zotteligen Affen mit rot glühenden Augen zurückkehrt. Der Regisseur treibt keinen Spezialeffekt-Firlefanz, sondern benutzt für sie den guten alten Spiegeltrick und steckt ihn schlicht in ein Kostüm.

Der Schlüssel zu allen Filmen des 39-jährigen Thailänders - sein "Tropical Malady" gewann 2004 schon den Jury-Preis in Cannes - ist der animistische Glaube an die Wanderung der Seele, die Wiedergeburt in Tieren, Pflanzen oder anderen Menschen und die Unsterblichkeit durch Erinnerung. Der Büffel, der sich von seinem Strick losreißt, der Wels, der sich zwischen den Schenkeln der badenden Prinzessin festsaugt - beide könnten Reinkarnationen von Onkel Boonmee sein.

Sie könnten, könnten aber auch nicht. Weerasethakul macht kein Kino der Gewissheiten. Erinnerungen sind nicht zuverlässig, sondern fluktuieren, sind nicht objektiv, sondern höchst subjektiv. Am besten gibt man sich "Onkel Boonmee" wie einem Märchen hin, das sich magisch vor unseren Augen entfaltet, wo selbst die glühenden Augenpaare von Waldgeistern in der Dschungelnacht nichts Erschreckendes an sich haben und Höhlen mit glitzernden Lichtern erfüllt sind: flackerndes Licht in der Dunkelheit, eine von vielen subtilen Anspielungen auf das Kino selbst.

Mit den Federn des Cannes-Siegers können sich viele schmücken, auch in Deutschland. "Boonmee" ist Teil eines Multimediaprojekts, das vom Münchner Haus der Kunst in Auftrag gegeben wurde, einer der Produzenten ist der "Lindenstraße"-Erfinder Hans W. Geißendörfer, und selbst die Berlinale hat ihre Hand im Spiel: Der von ihr gegründete World Cinema Fund gewährte Fördergelder.

Die auf viele Quellen verteilte Finanzierung von "Boonmee", obwohl Weerasethakul ihn als "No Budget Film" bezeichnete, sagt einiges über die Probleme von Cannes, dieses Jahr genügend gute Filme zu finden. Le Festival hat sich stets als Zufluchtsort des Autorenfilms verstanden, doch scheint gerade der erheblich unter der Finanzkrise zu leiden: Projekte von jungen Regisseuren, die keinen sicheren Gewinn versprechen, sind viel schwerer zu finanzieren als früher.

Das Festival war somit gezwungen, auf vermeintlich "sichere" Nummern zu setzen: Mike Leigh, Abbas Kiarostami, Alejandro González Iñárritu, Bertrand Tavernier, Takeshi Kitano, Ken Loach, Im Sangsoo - sie alle lieferten erwartbar Respektables, aber nichts Herausragendes. Nikita Michalkows "Die Sonne, die uns täuscht 2" war als vaterländische Schlachtenplatte wahrlich ärgerlich, und Jean-Luc Godards Collage "Film Socialisme" ein Bewusstseinsstrom, dem außer seinem Autor niemand mehr zu folgen vermochte.

Unter diesen verschärften Bedingungen haben die Juroren um den Regisseur Tim Burton und Alberto Barbera, früher Chef des Konkurrenzfestivals in Venedig, fast alles Preiswürdige tatsächlich mit einer Auszeichnung bedacht. Der Große Preis der Jury ging an "Des Hommes et des Dieux" (Von Menschen und Göttern), einen in seiner strengen Klarheit und unbeirrbaren Humanität anrührenden Film über Religion und Intoleranz. Der Koreaner Lee Chang-dong erhielt den verdienten Drehbuchpreis; in seinem Film "Poetry" verzahnt er unmerklich die verschiedensten Ebenen, von dem Streben nach Schönheit im Leben über die Zerrissenheit moderner Familien bis zur Selbstbestimmung im Alter, inklusive eines würdigen Todes.

Der Spanier Javier Bardem, zurzeit wohl Europas bester Schauspieler, ist immer preisverdächtig, selbst in González Iñárritus von falschen Tönen durchsetztem Drama "Biutiful"; von der Bühne warf er Küsschen Freundin Penélope Cruz ins Publikum zu. Er teilt sich die Darstellerehre mit dem Italiener Elio Germana in Daniele Nichettis Familiengeschichte "La Nostra Vita"; beide spielen Männer, die Schwierigkeiten mit ihrer Vaterrolle haben, ein Thema, das in Cannes häufiger auftauchte.

Juliette Binoche, die - als erste Schauspielerin in der Festivalgeschichte - das offizielle Plakat zierte, wurde für ihre Rolle als Kunstsammlerin in "Copie Conforme" des Iraners Abbas Kiarostami ausgezeichnet. Und noch ein dritter Preis blieb in Frankreich: Mathieu Amalric gewann ihn für die Regie von "Tournée".

Einen deutschen Starttermin für "Onkel Boonmee" gibt es bislang nicht.