“Letzte Nacht in Twisted River“, der neue Roman von Bestseller-Autor John Irving, reißt den Leser durch 50 Jahre und halb Nordamerika.

Hamburg. Auf den ersten Seiten von "Letzte Nacht in Twisted River" geht es bereits um Wasser, es wird eine Szene der Flößer und Holzfäller geschildert, und man gerät in den Erzählsog eines John-Irving-Romans . Der erste Satz eines Romans ist der Türöffner, er zieht den Leser hinein in das geräumige Haus eines epischen Erzählwerks.

Erste Sätze sind wichtig, sie sind das Produkt eines poetischen Denkprozesses. (Auch wenn Irving selbst immer den letzten Satz eines Romans zuerst schreibt.) Der Romancier Daniel Baciagalupo aber ist ein typischer Vertreter seiner Zunft. Er feilt an dieser allerersten Wortfolge, verwirft diesen Satz und jenen: Dann hat er ihn. "Der junge Kanadier - er war höchstens fünfzehn - hatte zu lange gewartet", so steht er da in Baciagalupos Roman, und so steht er auch in Irvings neuem Roman, der heute auf Deutsch erscheint. Baciagalupo ist eine Figur aus dem Roman, ein Spiegel, in den Irving schaut. Der Verfasser von "Witwe für ein Jahr" und "Hotel New Hampshire" treibt in seinem zwölften Roman das Spiel mit autobiografischen Elementen auf die Spitze.

Und so gibt es noch mehr Parallelen zwischen der fiktiven Figur und dem von seinen Lesern verehrten Irving, dessen Bücher sich weltweit millionenfach verkaufen und dem Kritiker bisweilen Themenarmut vorhalten. Im Internet findet sich eine Auflistung, eine Art Diagramm der Motive, die in Irvings Werken immer wieder vorkommen: das Erwachsenwerden, das Ringen, Bären, Beziehungen zwischen älteren Frauen und jüngeren Männern, Schriftsteller, Wien, New England. Daneben stehen die zwölf Romane, Kreuze veranschaulichen, welche der Lebensthemen des 68-Jährigen, der im September auf dem "Harbour Front"-Festival in Hamburg liest, in dem jeweiligen Werk eine Rolle spielen. Hinsichtlich der Anzahl der Kreuze reicht "Twisted River" beinahe an die Referenzgröße "Hotel New Hampshire" heran. Der Vorwurf der Einfallslosigkeit wäre allerdings albern - oder hat schon einmal jemand Theodor Fontane infrage gestellt, weil er nur über Ehebruch, märkische Junker und gesellschaftliche Konventionen schreibt?

An einer Stelle seines 730-Seiten-Wälzers nimmt Irvings Schriftsteller-Figur durchaus ironisch Bezug auf den Gegenwind im Buchbetrieb. Aber die Meta-Spielereien sind nur Zierde, und eigentlich ist "Twisted River" gerade wegen der autobiografischen Gimmicks ein echter Irving. Es wird breitflächig eine dolle Geschichte erzählt, die auf einer skurrilen, unerhörten Begebenheit beruht: Der kleine Danny erschlägt Indianer-Jane, die Geliebte seines Vaters, mitten im Akt, weil er dachte, sie sei ein Bär, der den Vater angreift.

Darauf beginnt eine beinah lebenslange Flucht, die Vater und Sohn von New Hampshire nach Boston, Vermont, Iowa und Ontario führt, in die Wagnisse des Lebens, das der Macht des Schicksals ausgeliefert ist. Vater - "der Koch" - und Sohn verbindet eine tiefe Liebe, sie schließt die Zuneigung zu dem Flößer und Holzfäller Ketchum mit ein. "Twisted River" ist eine literarische Beschwörung der großen Themen des Lebens: dem Streben nach Glück und dessen Flüchtigkeit. Es geht um Vaterliebe und Verlustangst, um Geborgenheit und Freundschaft. Es geht um mächtige Frauen und kleine Männer, und ganz bestimmt treibt Irving, der seinen biologischen Vater nie kennenlernte, ein humorvolles Spiel mit der Psychoanalyse. Die Frau ist in "Twisted River" beinahe immer eine Naturgewalt, in einem Fall schwebt sie gar nackt vom Himmel. Eigentlich wäre dies doch die perfekte erste Szene eines dicken Romans gewesen. Doch der unbefangene und von keinerlei Zweifeln angekränkelte Schriftsteller Irving hat derlei Effekthascherei nicht nötig, sein Erzählstrom fließt meist unaufgeregt, nur manchmal wird er etwas kabbelig.

Der Roman erstreckt sich über die erzählte Zeit von fünf Jahrzehnten, er ist ein Pageturner ohne ästhetische Wagnisse, sein Reiz liegt in der Irving-typischen Entfaltung des üppigen Plots. Manchmal vermisst man den besonderen, den schön formulierten Satz, aber dann ist man auch schon weiter im rasanten Fortgang der Handlung und fragt sich, ob man wohl gerade Hunger bekommt. Denn das gefräßige, Buchstaben auf Buchstaben verschlingende "Letzte Nacht in Twisted River" ist auch ein Kochbuch. Ich esse, also bin ich, das ist die Formel, auf die die rastlose Suche der Figuren zu bringen ist. Mit jedem Ort, den der Koch und sein Schriftsteller-Sohn aufsuchen, erschließt sich ihnen eine neue kulinarische Welt.

Der Koch ist italienischer Abstammung, den Flößern in New Hampshire kredenzt er panierte Hähnchenschnitzel alla parmigiana, und es gibt Lammkeule mit Zitrone, Knoblauch und Olivenöl, außerdem Pasta in allen Variationen. Identität und köstlich zubereitetes Mahl gehen in "Twisted River" eine untrennbare Verbindung ein. In Iowa steht die chinesische Küche auf dem Speiseplan, in Toronto die französische.

Der lukullischen Offenheit der Menschen in Irvings Buch korrespondiert die Vielzahl der Weltzugänge, die sich jenen erschließen. Bei aller kräftigen Ausgestaltung der Charaktere fehlt dem Roman freilich ein Zentrum. Spätestens, als die Flucht des Daniel Baciagalupo endet, weil der Dorfpolizist nach Jahrzehnten die Spur des versehentlichen Mörders gefunden hat, geht "Twisted River" die Stringenz abhanden. So wirken besonders die politischen Tiraden Ketchums aufgepfropft. Irving überfrachtet sein ambitioniertes Werk, es muss dann auch noch der 11. September sein, der Bestandteil der Handlung wird. John Irving betrachtet das aber als eine Chronistenpflicht, er ist der große amerikanische Geschichtenerzähler.

John Irving: Letzte Nacht in Twisted River (Diogenes), übersetzt von Hans M. Herzog, 730 Seiten, 26,90 Euro