Allianz „respektiert“ Wunsch des bedrängten Landes. Putin nimmt Separatisten in Schutz. Menschenrechtler beklagen zivile Opfer

Brüssel/Kiew/Moskau. Angesichts der Krise im Osten startet die ukrainische Regierung einen neuen Anlauf zur Nato-Mitgliedschaft. Der Beitrittsprozess zu dem westlichen Militärbündnis solle wegen der russischen „Aggression“ wieder aufgenommen werden, erklärte Ministerpräsident Arseni Jazenjuk bei einer Kabinettssitzung am Freitag in Kiew. Seine Regierung werde im Parlament einen Gesetzentwurf einbringen. Dieser sehe vor, „den blockfreien Status zu beenden und auf den Weg zum Nato-Beitritt zurückzukehren“. Grundlegendes Ziel der Außenpolitik bleibe eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union.

Die Nato scheint die Tür gegenüber diesem Wunsch zumindest nicht zuzuschlagen: „Wir werden die Entscheidung der Ukraine über das Verlassen ihrer Neutralität voll respektieren und auch den Wunsch, Nato-Mitglied zu werden“, sagte Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen. Für ihn ist klar, dass trotz der „leeren Beteuerungen“ aus Moskau russische Truppen illegal in die östliche und südöstliche Ukraine eingedrungen sind. Die Destabilisierung der Ukraine als souveräner Staat sei zu erkennen. Rasmussen sagte in Brüssel, die Allianz werde es „vollkommen respektieren“, wenn das ukrainische Parlament entscheide, die bisherige Politik zu ändern. „Denn wir verfolgen das Prinzip, dass jedes Land das Recht hat, ohne Einmischung von außen darüber zu entscheiden. Und wir hoffen, dass andere Staaten dieses Prinzip auch befolgen“, sagte Rasmussen in Anspielung auf Russland.

Im Jahr 2008 war die Ukraine trotz Unterstützung der USA mit einem Antrag auf Nato-Mitgliedschaft gescheitert, erhielt stattdessen lediglich eine symbolische Beitrittsperspektive ohne Datum. Im Zuge der Krim-Annexion durch Russland hat das Bündnis seine Zusammenarbeit mit Kiew aber verstärkt und seine Beziehungen zu Moskau weitgehend abgebrochen. Russland ist strikt dagegen, dass sein Nachbar von der Nato aufgenommen wird.

Wladimir Putin legte am Freitag im Konflikt rhetorisch gewaltig nach und kritisierte die Ukraine massiv. Der russische Präsident sagte, der Vormarsch der ukrainischen Armee auf die Städte im Osten des Landes erinnere ihn „an die Nazi-Belagerung von Leningrad im Zweiten Weltkrieg“. Das Problem wäre, dass die ukrainische Regierung sich weigere, ernsthafte Gespräche mit den Separatisten zu führen. Hingegen könne er das Verhalten der Separatisten verstehen. „Der Sinn ihrer militärisch-humanitären Operation besteht darin, die ukrainische Artillerie und die Mehrfachraketenwerfer von den Großstädten zu verdrängen, damit sie nicht mehr friedliche Zivilisten töten können“, betonte Putin.

Der russische Präsident fügte hinzu: Sein Land suche nicht nach Konflikten, aber er wolle daran erinnern, dass Russland immer noch eine der mächtigsten Nuklearstaaten sei. Und man sei bereit, jede Form von Aggression gegen Russland zurückzuweisen. Dann fügte er noch hinzu, er hoffe nicht, dass die komplizierte politische Situation dazu führen werde, dass Russland die Fußball-WM im Jahr 2018 verliert. Schließlich erklärte der Präsident beim Besuch eines Jugendlagers außerhalb von Moskau vor Studenten, dass sein Land die Position in der Arktis wirtschaftlich und militärisch ausbauen werde.

Angesichts der Entwicklung in der Ukraine hat die Bundesregierung Russland nun erstmals eine „militärische Intervention“ vorgeworfen. Regierungssprecher Steffen Seibert verwies darauf, dass sich die Hinweise auf die Präsenz von Russen und die Verwendung von russischen Waffen verdichtet hätten. „Das alles zusammen addiert sich zu einer militärischen Intervention.“ Zugleich bekräftigte Seibert die Ankündigung von Kanzlerin Angela Merkel (CDU), dass der EU-Sondergipfel in Brüssel über weitere Sanktionen gegen Russland beraten werde.

Nach Informationen aus Brüsseler Diplomatenkreisen könnten sich die Beschränkungen gegen den Import von Luxusgütern aus Russland richten: Die Rede ist von Kaviar, Wodka, aber auch Diamanten. Russland ist einer der weltgrößten Exporteure von Diamanten, diese Maßnahme könnte das Land empfindlich treffen. Vor diesen Wirtschaftssanktionen schreckte die EU bislang noch zurück. Sie werden als dritte und letzte Stufe des sogenannten Sanktionsmechanismus der Europäischen Union gegen Russland gewertet. Entsprechende Pläne werden seit Wochen vorbereitet. Die Bundesregierung ist derzeit noch dabei, mögliche weitere Sanktionen und ihre Auswirkungen auf Russland wie auf Deutschland zu prüfen. Einen festgelegten Plan, der nun einfach abgearbeitet werden könnte, gibt es nicht.

Von einer militärischen Intervention Russlands hatte am Donnerstag bereits der ukrainische Präsident Petro Poroschenko gesprochen. Die Nato hat den Begriff bisher nicht verwendet und stattdessen von einem Einfall (Incursion) gesprochen. Rumäniens Staatspräsident Traian Băsescu hat die Staaten der EU und der Nato mit Nachdruck aufgefordert, die ukrainische Armee mit Rüstungsgütern zu unterstützen. Sonst bestehe die Gefahr, dass sich das Kräftegleichgewicht zugunsten der prorussischen Separatisten verschiebe, sagte Băsescu. Er wolle beim EU-Sondergipfel am Sonnabend in Brüssel für Militärhilfe plädieren.

Deutsche Waffenlieferungen an die Ukraine schloss die Bundesregierung abermals aus. „Waffenlieferungen sind überhaupt nichts, woran die Bundesregierung denkt“, sagte Seibert. Der ukrainische Außenminister Pawel Klimkin hatte den Westen um Waffenlieferungen gebeten. Allerdings unterstützen deutsche von September bis zum Jahresende die Nato-Luftraumüberwachung über den baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen. Ein Geschwader der Luftwaffe übernahm am Freitag das Kommando auf der estnischen Luftwaffenbasis Ämari. Dafür wurden vier Eurofighter und ein Kontingent von rund 160 Soldaten nach Estland verlegt. Zwei weitere Kampfjets werden in Bereitschaft in Deutschland vorgehalten. Das teilte ein Sprecher der Luftwaffe mit.

Der Einsatz ist eine Erweiterung des „Nato Air Policing Baltikum“ und Teil der im April vereinbarten verstärkten Militärpräsenz der Nato im Osten des Bündnisgebiets. Die baltischen Staaten dringen angesichts des Konflikts in der Ukraine auf mehr Nato-Präsenz. Da die drei Staaten keine eigenen Kampfflugzeuge haben, sichern die Verbündeten bereits seit 2004 ihren Luftraum.

Außerdem sind vier Ärzte der Bundeswehr, darunter zwei aus Koblenz, zur Versorgung Verwundeter in der ukrainischen Hauptstadt Kiew eingetroffen. Das teilte der Sanitätsdienst der Bundeswehr in Koblenz am Freitag mit. Vorher hatte der Südwestrundfunk (SWR) darüber berichtet.

Das Team wird verletzte ukrainische Soldaten untersuchen, von denen 20 in deutschen Militärkrankenhäusern behandelt werden sollen. Geplant ist, dass etwa fünf von ihnen ins Bundeswehrkrankenhaus Koblenz kommen. Die Verwundeten sollen am Dienstag mit einem Spezialflugzeug transportiert und dann in Berlin, Hamburg und Koblenz behandelt werden. „Die genaue Verteilung hängt von der Art der Verletzung ab“, teilte ein Sprecher des Sanitätsdiensts mit. Die Entscheidung, wer behandelt werde, falle an diesem Sonntag. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) hatte der ukrainischen Regierung diese Hilfe zugesagt.

Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) hat davor gewarnt, dass der Konflikt in der Ukraine „außer Kontrolle gerät“. Die ohnehin gefährliche Lage in der Ostukraine befinde sich in einer „neuen Dimension“, sagte Steinmeier vor dem Treffen der EU-Außenminister in Mailand. Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko will sich vor dem EU-Gipfel am heutigen Sonnabend in Brüssel mit EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso und Ratspräsident Herman Van Rompuy treffen. Vermutlich wird er sich dort für eine härtere Linie der EU gegen Moskau einsetzen.

Uno-Menschenrechtskommissarin Navi Pillay hat sich derweil alarmiert über gezielte Tötungen von Zivilisten im Ostukraine-Konflikt geäußert. Solche Vorfälle stellten eine Verletzung des humanitären Völkerrechts dar, sagte Pillay in Genf. Alle Konfliktbeteiligten müssten die Grundsätze der Unterscheidung von Kämpfern und Zivilpersonen, der Verhältnismäßigkeit und des notwendigen Schutzes wahren. Dies gelte besonders in dicht besiedelten Gebieten.