Vor der Annahme des Koalitionsvertrages diskutiert die Partei doch noch über die ungeliebte Große Koalition – und stimmt dann geschlossen zu

Berlin. Um kurz vor zwölf geht ein Mann ohne Schirm durch strömenden Regen ins Berliner Hotel Intercontinental. Den Kragen seiner Jacke hat er hochgeschlagen, sein Gesicht sieht noch trauriger aus als dieser graue Tag: Kurt Lauk, früher Vorstand bei DaimlerChrysler, ist Präsident des Wirtschaftsrates der CDU. Am Abend feiert seine Organisation, die „Stimme der sozialen Marktwirtschaft“ ihr 50. Jubiläum, doch jetzt, am Mittag, hat Lauk noch einen anderen Termin. Der Bundesausschuss der CDU will den Koalitionsvertrag annehmen.

Lauk aber nicht. Das hat er schon vorher mitgeteilt. Ebenso Carsten Linnemann, der junge Vorsitzende der Mittelstandsvereinigung und Christian von Stetten, Chef des Parlamentskreises Mittelstand, die größte Gruppe in der Fraktion. Die CDU koaliert mit der SPD, aber nicht mehr mit der Wirtschaft – so ist die Ausgangslage dieser bemerkenswerten Veranstaltung.

Also einiges zu erklären für Angela Merkel. Die Bundeskanzlerin und CDU-Vorsitzende wirbt vor allem mit einer Zahl. 41,5 Prozent der Wähler haben für CDU oder CSU gestimmt, erinnert sie zu Beginn ihrer Rede gleich viermal. Diesen Erfolg trägt sie in vielen Varianten vor: 7,7 Prozentpunkte mehr als 2009, mithin „der höchste Stimmenzuwachs einer Partei, den es seit 1953 gegeben hat“. In 14 von 16 Ländern ist die Union stärkste Kraft. 236 von 299 Direktmandate hat sie gewonnen. In allen sozialen Gruppen, außer den Arbeitslosen, liegt die Union bei den Wählern vorn.

Merkel geht in ihrem Vortrag auf ihre Kritiker vom Wirtschaftsflügel zu. Sie wünscht sich, dass die FDP bei der nächsten Bundestagswahl wieder ins Parlament einzieht. Sie erklärt das Bündnis mit der SPD beinahe zur Notlösung, die nur der Verweigerung der Grünen entsprang. Sie zählt als positive Punkte im Koalitionsvertrag die Abwehr von Steuererhöhungen und neuen Schulden auf, die geplanten Milliardeninvestitionen in Infrastruktur, die Entlastung der Kommunen und die geplante Steigerung der Ausgaben für Forschung. Den Kompromiss bei der Energiewende einen „qualitativen Durchbruch“. Die teuren Erneuerbaren sollen nicht mehr grenzenlos wachsen, sondern in einem „Ausbaukorridor“. Erst zum Schluss kommt sie auf die Kritikpunkte von Lauk & Co. „Wenn wir alleine einen Koalitionsvertrag gemacht hätten, hätte es einen anderen Mindestlohn gegeben.“ Die teure Mütterrente habe die CDU selbst beschlossen. Zum ersten Mal gibt die Kanzlerin zu, dass dafür „eines Tages auch Bundeszuschüsse ins Rentensystem müssen“. Die Rente mit 63 für Arbeitnehmer mit langer Erwerbsbiografie nennt Merkel: „Wieder ein Kompromiss, den wir alleine nicht gemacht hätten.“

Lauk reicht das nicht. Er antwortet in der Aussprache für „den Bereich, der in Deutschland die Wertschöpfung organisiert“. Dies werde schwieriger mit diesem Koalitionsvertrag. Bei der Energiewende wäre ein „Moratorium“ notwendig gewesen, meint Lauk. Für die Mütterrente würden „konjunkturelle einmalige Mehreinnahmen zu strukturellen Mehrausgaben“ und die Rente mit 63 sei das Signal: „Wir nehmen einen Teil der Agenda 2010 zurück.“ Der Beifall im Saal ist nur mit viel gutem Willen höflich zu nennen.

Später wird ihm Noch-Bundesumweltminister Peter Altmaier vom Saalmikrofon aus antworten, die CDU wolle kein Moratorium, sondern die Energiewende vorantreiben. Die Vorsitzende der Frauen-Union, Maria Böhmer, argumentiert: „Die Mütterrente hat gezogen im Wahlkampf und die SPD hat uns um dieses Thema beneidet.“ Fast 40 Wortmeldungen gibt es in der Aussprache – für die Merkel-Partei ist das eine beinahe wilde Diskussion. „So ging es beim Bundesausschuss noch nie zu. Helmut Kohl ist hier früher einfach gegangen, wenn er keine Lust mehr hatte“, erinnert sich ein alter Fahrensmann. Merkel geht nicht. Fast vier Stunden sitzt die Kanzlerin auf dem Podium, verspeist dort auch eine Gulaschsuppe und hört ihrer Partei zu.

Nicht jeder Unzufriedene ist so isoliert wie Lauk. Carsten Linnemann von der Mittelstandsvereinigung findet Beifall als er fordert, das nächste Wahlprogramm dürfte nicht nur von den Führungen von CDU und CSU ausgekungelt werden, sondern müsse auf einem Parteitag diskutiert werden. Auch die jungen Abgeordneten Philipp Mißfelder und Jens Spahn werden mit Wohlwollen gehört. Sie hatten am Wochenende den Aufruf „cdu2017“ initiiert, indem 57 Abgeordnete, Landesminister und Staatssekretäre eine inhaltliche und personelle Neuaufstellung der Partei fordern, um bei der nächsten Bundestagswahl eine Mehrheit ohne die SPD zu erringen. Mit einem Nein zum Koalitionsvertrag hatten sie freilich nicht gedroht.

Die Kritiker haben erkennbar keine Mehrheit. Im Gegenteil: Als Franz-Josef Laumann, Vorsitzender der CDU-Arbeitnehmerorganisation, sich offensiv zu Schwarz-Rot bekennt, klatschen viele. „Glaubt einer hier im Saal, dass die Energiewende mit Blick auf Arbeitsplätze in der Produktion mit den Grünen besser zu lösen wäre?“, fragt er rhetorisch. Die von der SPD durchgesetzte gesetzliche Gleichbezahlung von Leiharbeitern und Stammbelegschaft lobt Laumann feurig: „Die Leute werden nie verstehen, warum zwei, die am gleichen Ort, die gleiche Arbeit leisten unterschiedlich bezahlt werden sollen.“ Seit Wochen schon geistert das Gerücht durch die Partei, Laumann, der jetzt Fraktionschef in NRW ist, könnte nach Berlin wechseln. Tatsächlich zieht sich sein Landesgruppenvorsitzender Peter Hintze, ein einflussreicher Strippenzieher, auch mit ihm zu einem Zwiegespräch zurück. Der Arbeiterführer der CDU scheint im Kommen. Und die Wirtschaft? Linnemann vom Mittelstand enthält sich der Stimme, von Stetten vom Wirtschaftsflügel der Fraktion ist gar nicht erst angereist. Lauk hat sich schon eine Stunde vor der Abstimmung in den Regen verabschiedet. Die CDU nimmt den Koalitionsvertrag mit 165 Jastimmen bei zwei Enthaltungen an.