Viele Heranwachsende verzichten auf Fleisch – ihre Eltern nicht. Was Eltern, Ärzte, Ernährungsexperten dazu sagen

Ginas „Phase“ dauert jetzt schon knapp acht Jahre. Als sie in der dritten Klasse verkündete: „Mama, Papa, ich bin jetzt Vegetarierin“, nahm die Familie aus Hamburg das Vorhaben nicht ganz so ernst. „Das wird nur eine Phase sein, dachten wir“, erzählt ihre Mutter Manuela Resch. „Da haben wir uns getäuscht.“ In der Schule hatte Ginas Klasse etwas darüber gelernt, wo Lebensmittel herkommen, und über Massentierhaltung gesprochen.

„Ich fand es brutal, wie die Tiere leben müssen, damit wir ihr Fleisch essen können“, sagt die bald 16-Jährige. Und zog die Konsequenz: Bis heute isst die Schülerin nur einmal im Monat Fisch und hält sich ansonsten an Obst, Gemüse, Getreide und auch mal Tofu als Fleischersatz. Eier, Milch und Frischkäse stehen ebenfalls auf ihrem Speiseplan, sie lebt also nicht vegan. In der Klasse und im engeren Freundeskreis ist sie die einzige Vegetarierin. „Am Anfang habe ich mir schon Sorgen gemacht, wegen des Wachstums, ich habe ihr immer wieder Fleisch angeboten. Aber sie wollte wirklich nicht“, erinnert sich ihre Mutter.

Ginas Fall ist recht typisch. „Klassischerweise beginnt das Veggie-Leben bei Kindern in der zweiten bis vierten Grundschulklasse“, sagt der Kinderarzt Stefan Renz, Landesvorsitzender des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte. „Das geschieht dann aber meist aus Tierliebe und nicht aus dem Wunsch nach einer gesünderen Ernährung.“ Die meisten Eltern nähmen das hin und unterstützten den Nachwuchs, machten sich aber auch Sorgen, ob die Kinder ausreichend Nährstoffe bekämen. „Dann kontrollieren wir schon mal das Blutbild, den Eisenspiegel oder die Bluteiweiße, aber wir sehen erstaunlich wenig Auffälligkeiten.“

Wenn sich ein Kind plötzlich entscheide, vegetarisch zu essen, dann sei das durchaus in Ordnung, sagt Antje Gahl von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE). „Eltern die unsicher sind, können dies beim nächsten Besuch beim Kinderarzt ansprechen und gegebenenfalls verschiedene Blutwerte kontrollieren lassen.“ Auch die Gewichtszunahme und das Wachstum sollten Eltern im Blick behalten.

Die Gesellschaft für Ernährung empfehle eine ausgewogene Mischkost (also auch mit einem Teil Fleisch), sagt Gahl, habe aber nichts gegen eine vegetarische Ernährung mit Eiern und Milchprodukten einzuwenden. „Bei Kindern und Jugendlichen sollte darauf geachtet werden dass der Speiseplan abwechslungsreich ist. Es darf dann nicht heißen: ‚Ich mag kein Fleisch, aber Gemüse, Hülsenfrüchte und Vollkornbrot will ich auch nicht‘, diese sind wichtige Bestandteile einer vegetarischen Ernährung“, sagt Gahl. Darauf müssten Eltern achten.

Man kann sich sehr gut ausmalen, welche Szenen sich manchmal am Tisch der Familie Resch abspielen. Gina und ihr 13 Jahre alter Bruder Luca erzählen mit großem Spaß davon. „Ich könnte ohne Fleisch keine Woche überleben – und ab und zu halte ich ihr schon mal ein Steak direkt vor die Nase, um sie zu ärgern“, sagt Luca. Gina nimmt Hänseleien mit der Würde der größeren Schwester hin. Kommentare wie „Du isst den Tieren ihr Futter weg“ prallen an ihr inzwischen ab.

„Früher gab es oft Streit in der Familie, beispielsweise an Weihnachten. Da war Gina teilweise schon sehr böse, dass wir Geflügel essen wollten“, sagt ihre Mutter, deren Großeltern eine Fleischerei hatten. Inzwischen sagt Gina: „Ich habe meine Überzeugung – habt ihr eure.“ Ihr Vater findet laut Schilderungen der Mutter heute noch, dass Fleisch zu einer Mahlzeit dazugehört. Während sie anfangs genervt war, dass ihre Tochter eine vegetarische Extrawurst auf den Tisch wollte, wünscht sie sich heute, dass die Männer der Familie mehr Obst und Gemüse essen. Sie hat sich anstecken lassen von ihrer Tochter: „Sie werden bei uns sehr viele vegetarische Kochbücher finden.“ Doch wie viele Kinder verzichten auf Fleisch und Fisch? Nicht immer ist das ihr eigener Wunsch, sondern ein Wunsch der Eltern. Bundesweite Daten aus dem Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KiGGS) des Robert-Koch-Instituts (Befragung zwischen 2003 und 2006) ergaben folgendes Bild: Kein Fleisch, Geflügel oder Wurst verzehrten lediglich 1,7 Prozent der Jungen, die älter als drei Jahre alt waren, und 3,2 Prozent der Mädchen in dieser Altersgruppe. Bei den 14- bis 17-jährigen waren es 2,1Prozent der Jungen und 6,1 Prozent der Mädchen. Der Vegetarierbund Deutschland schätzt, dass etwa 15 Prozent der Mädchen und fünf Prozent der Jungen Vegetarier sind.

Manchmal denkt Gina darüber nach, vegan zu leben, also ganz auf tierische Produkte zu verzichten. „Da würde ich allerdings streiken“, sagt ihre Mutter. „Dann müsste sie selbst kochen, das ist mir zu viel Aufwand.“ Die DGE rät zumindest für Säuglinge und kleine Kinder von veganer Ernährung ab, aus „Sicherheitsgründen“, sagt Antje Gahl. Das gilt auch vorsichtshalber für Schwangere, Stillende und Kinder allgemein. „Es gibt Nährstoffe, wo es leicht zu einer Unterversorgung kommen kann.“ Dazu gehören Proteine, Jod, Eisen oder die B-Vitamine. „Doch kann man nicht verallgemeinern: Vegetarisch und vegan lebende Familien haben oft ein großes Wissen über Ernährung und sind dementsprechend achtsam.“ Es sei nicht unmöglich, die B-Vitamine ohne Fleisch abzudecken, es werde aber schwieriger, besonders bei Vitamin B12. Für die Blutbildung und das Nervensystem ist es extrem wichtig, aber laut Gahl nur in wenigen pflanzlichen Lebensmitteln wie Algen oder sauer vergorenem Gemüse enthalten, die für die Bedarfsdeckung nicht ausreichend sind.

Kinderarzt Renz sagt, dass vegan lebende Eltern oft recht differenziert denken und ihren Kinder beispielsweise Vitamin-B12-Pulver gäben, um diesen wichtigen Nährstoff zu ergänzen. Einer dieser Väter ist Andreas Grabolle. In seinem Sachbuch „Kein Fleisch macht glücklich“ schildert er, wie er vom Liebhaber von Thüringer Würstchen und Corned Beef zum Veganer wurde. Lange hat er in Tierbetrieben recherchiert und sich mit vielen Aspekten des Fleischkonsums beschäftigt. Wichtiges Thema für ihn und seine Partnerin: Wie können sie die gemeinsame Tochter ernähren? „Anfangs habe ich mir einmal die Woche Fleisch oder Wurst mit ihr geteilt, davon bin ich aber inzwischen abgekommen. Ich brauche das nicht mehr, und für unsere Tochter haben wir Wege gefunden, dass es ihr nicht an Nährstoffen mangelt.“

Die fünfjährige Tochter kennt Fleisch auch von Festen in der Kita. Sie mag es, sagt Grabolle. Da er es nicht verbiete, hoffe er, dass Fleisch nicht so „ein extremer Reiz“ für sie sei – ähnlich, wie es andere Eltern mit Süßigkeiten halten. Ob seine Rechnung aufgeht, weiß er nicht. „Neulich hat meine Tochter gesagt: ‚Wenn ich mal groß bin, dann kauf ich mir einen Sack voll Fleisch.‘ Damit muss ich dann wohl leben, wenn sie ihr Taschengeld später für Burger ausgibt.“

Ab und zu halte ich ihr schon mal ein Steak direkt vor die Nase, um sie zu ärgern.