Hamburg. Der Internationale Bund gibt Kindern und Jugendlichen in einer Wohngruppe Halt und Geborgenheit – unterstützt vom Abendblatt-Verein.

Eigentlich wollten Michael und sein Bruder Jonas (beide Namen geändert) nur zwei Wochen im Wohngruppenhaus in Neuallermöhe bleiben. Schauen, ob sich in dieser Zeit die Lage zu Hause beruhigt, die Eltern ihre beiden ältesten Kinder vermissen würden. Doch diese zogen stattdessen mit ihren sechs jüngeren Kindern von Hamburg ins Ausland. Die Brüder erfuhren davon per Telefon. Das war 2018 und seither haben sie ihre Familie nicht mehr gesehen – die Gruppe im Wohnhaus des Internationalen Bunds (IB) ist zur Ersatzfamilie geworden.

Über zwei Stockwerke wohnen hier 14 Kinder und Jugendliche. Die zehn Kinder zwischen acht und 15 Jahren werden von acht Erziehern und Sozialpädagoginnen versorgt, vier ältere Jugendliche leben in zwei WGs in der sogenannten Verselbstständigung – das heißt, sie üben das Alleinleben ein. Der Verein Hamburger Abendblatt hilft hat der Wohngruppe gerade eine neue Küche mit finanziert, die mit dem großen Tisch, den bequemen Essstühlen und den hellen Fronten der Mittelpunkt der Gemeinschaft ist.

Die Kinder haben oft Gewalt und Missbrauch erlebt

Hier wird nicht nur gekocht, sondern auch geklönt, gebastelt und gespielt. Für Janne Kiehl, Leiterin des Bereichs Hilfe zur Erziehung in Bergedorf, ist es wichtig, den Kindern „die aus zum Teil verwahrlosten Familien und Zusammenhängen stammen, oft Gewalt und Missbrauch erlebt haben oder Waisen sind“, ein schönes Zuhause zu gestalten. „Manche denken, in diesen Wohnungen geht eh alles zu Bruch, da lohnt sich keine Investition, doch ich sehe das genau anders. Gerade diese Kinder benötigen ein besonders liebevoll gestaltetes Umfeld“, sagt die engagierte Sozialpädagogin.

So war es für Michael, damals zwölf, und seinen zwei Jahre älteren Bruder Jonas ein ganz ungewohntes Gefühl, je ein Zimmer für sich im Wohngruppenhaus zu haben. Zuvor hatten sie ihren Schlafraum mit drei Geschwistern geteilt. In der elterlichen Wohnung war es laut, eng und der Vater ließ seine Wut häufig an den Ältesten aus. „Mein Vater hat uns oft geschlagen, manchmal kam er betrunken heim, weckte uns mitten in der Nacht und schlug mit dem Gürtel zu. Ohne Grund, egal, wir hatten immer Schuld. Ich hatte große Angst vor ihm“, berichtet der inzwischen 15-Jährige.

Dem Klassenlehrer von der eigenen Not erzählt

Deswegen waren er und Jonas kaum zu Hause, trieben sich nach der Schule, die beiden immer wichtig war, bis spätnachts auf der Straße oder dem Fußballplatz herum. „Meine Mutter war froh, dass wir lange wegblieben. So gab es weniger Stress zu Hause“, sagt Michael. Ein Freund von ihm wohnte damals in der Wohngruppe in Allermöhe und brachte ihn auf die Idee, hier ein paar Wochen zu leben. „Ich habe mich meinem Klassenlehrer anvertraut, ihm gesagt, dass ich eine Auszeit von zu Hause brauche“, erzählt der Jugendliche.

Gemeinsam mit dem Lehrer ging er zum Jugendamt – wenige Tage später zogen er und sein Bruder in die IB-Einrichtung ein. „Es kommt häufiger vor, dass Kinder und Jugendliche von sich aus die Initiative ergreifen und sich einen neuen Wohnort suchen. Darauf haben sie auch ein Recht“, erklärt Kiehl (40). Sie hätten auch schon Kinder aufgenommen, die ganz akut aus einer Familiensituation herausmussten „und nichts anderes mitbrachten als ihre Klamotten, die sie trugen“. Doch das sei eher selten.

Die Sozialpädagoginnen Janne Kiehl (l.) und Chantal Hörner in der neuen Küche der Wohngruppe - sie wurde vom Abendblatt-Verein mitfinanziert.
Die Sozialpädagoginnen Janne Kiehl (l.) und Chantal Hörner in der neuen Küche der Wohngruppe - sie wurde vom Abendblatt-Verein mitfinanziert. © THORSTEN AHLF / FUNKE FOTO SERVICES | Thorsten Ahlf

Normalerweise gibt es eine gemeinsame Entscheidung mit den Eltern, dass die Wohngruppe der künftige Mittelpunkt des Kindes sein wird. „Es gibt einen Kennenlerntermin mit dem Kind und wenn es sich für uns entscheidet, kann es nach Absprache mit meinem Team einziehen“, sagt Chantal Hörner (26), die für das Wohnhaus seit 2019 verantwortlich ist.

Balance der Alters- und Herkunftsgruppen

Gemeinsam mit dem Team achte sie auf eine Balance der Alters- und Herkunftsgruppen, denn auch minderjährige Geflüchtete leben in der Einrichtung. Die Kinder bleiben unterschiedlich lange. „Manche wohnen bei uns nur sechs Monate und gehen dann vielleicht zurück in die Familie, andere bleiben hier, bis sie erwachsen werden“, erklärt die Sozialpädagogin.

Jeder Junge und jedes Mädchen bekommt eine Bezugsperson aus dem Team zugewiesen, die sich künftig um alle Belange des Kindes sorgt, sich mit dem Jugendamt und den Eltern verständigt, sich um die Hobbys im Verein und die Berufswünsche ihres Schützlings kümmert. „Oder einfach auch mal nur das Kind in den Arm nimmt, obwohl wir dafür natürlich alle offen sind“, erklärt Hörner.

Jedes Kind muss ein Amt abends übernehmen

Michael sagt, er habe es von Anfang an toll gefunden, einen Betreuer zu haben, „der sich meine Sorgen und Probleme anhört. Ich hatte zum ersten Mal das Gefühl, dass mich jemand ernst nimmt. Mein Vater war nie ansprechbar für mich.“ Auch sein Bruder habe wieder angefangen, mehr zu lachen, fröhlich zu sein. „Ich fühlte mich hier von Anfang an wohl, dennoch war ich tief enttäuscht und getroffen, dass unsere Eltern einfach so weggezogen sind, ohne uns zu fragen, was wir wollen. Ich hatte einfach keine Wahl“, sagt Michael.

Nach dem Wegzug der Eltern hätten die Erzieher sie zum Teil des Teams gemacht. Sie hätten die Brüder noch mehr umsorgt, doch gleichzeitig mussten sie wie alle auch jeden Abend ein Amt übernehmen: den Tisch decken oder abräumen, Abwaschen oder den Müll rausbringen. Genauso wie diese Pflichten gibt es auch feste Regeln, wann die Kinder abends zu Hause sein müssen. Es wird gemeinsam zu Mittag und zu Abend gegessen, um 22 Uhr ist Bettzeit und die Handys müssen auf dem Küchentisch liegen – keine Ausnahme. Medien- und Fernsehkonsum werden genauso kontrolliert wie die Ordentlichkeit der Zimmer.

Die Kinder kennen keine Verlässlichkeit, haben wenig Vetrauen

„Es dauert rund eineinhalb Jahre, bis die Kinder und Jugendlichen hier wirklich ankommen und alle Regeln akzeptieren. Die meisten von ihnen kennen keine Verlässlichkeit, haben wenig Vertrauen in Erwachsene und testen ständig ihre Grenzen aus. Aber wir haben einen langen Atem und bleiben an ihnen dran“, sagt Kiehl. Ihr ist es besonders wichtig, den Kindern und Jugendlichen viele positive Erlebnisse zu bieten, auch wenn dies nur über Spenden möglich ist, weil es für neues Spielzeug, neue Kleidung, Fahrräder oder auch Ausflüge kein extra Budget gibt.

Hier springt der Abendblatt-Verein gerne finanziell ein. „Die Kinder kommen hier total verunsichert an, trauen sich nichts zu und nicht raus. Bei uns lernt jedes Kind schwimmen, wir gehen in den Tier- und Kletterpark und wenn ein Mädchen oder Junge unbedingt reiten lernen möchte, ermöglichen wir auch das“, erklärt Kiehl, die vor ihrer Leitungsfunktion viele Jahre als Betreuerin in Jugendwohnungen gearbeitet hat. Ihr Ziel sei es, ihre Schützlinge zu eigenständigen und selbstständigen Menschen zu erziehen, die ihr Leben so gestalten können, wie sie es sich wünschen.

Ab 16 können sie in den Verselbstständigungsbereich

Wenn die Betreuten 16 Jahre alt sind, können sie sich für einen Platz in einer Zweier-WG bei der IG bewerben, die noch eine andere Wohneinrichtung in Bergedorf betreibt. Sie kommen dann – wie zum Beispiel Michaels Bruder Jonas – in den Verselbstständigungsbereich, mit mehr oder weniger Betreuung, je nach Bedarf. Das Erzieherteam entscheidet, ob ein Jugendlicher schon reif genug dafür ist. „Jonas ist sehr ordentlich, bekommt seine Termine und die Schule alleine geregelt. Er braucht ab und zu einen Kochtipp oder Unterstützung bei der Organisation eines Praktikums, aber mehr nicht“, erklärt Hörner.

Mit spätestens 21 Jahren müssen sie ganz ausziehen. Michael kann sich, obwohl er bald 16 wird, noch nicht vorstellen, die familiäre Wohngruppe zu verlassen. Es ist offensichtlich, dass er die Geborgenheit, aber auch die festen Strukturen noch braucht. „Ich fühle mich hier einfach beschützt“, sagt er sehr reflektiert und auch dass er dankbar für all die Hilfen sei. „Meine Eltern hätten mich vermutlich nicht so gut unterstützen können.“