Mit intensiven Workshops verhelfen zwei junge Akademiker gefährdeten und frustrierten Schülern zum Schulabschluss

Der Herr Arlt ist genauso wie Herr Müller aus dem Film ,Fack ju Göhte‘“, sagt Michelle und zupft an ihren langen Haaren. „Der ist cool, versteht viel Spaß und vor allem uns. Der ist echt gechillt.“ Außerdem ist Philipp Arlt auch so etwas wie ein Lebensretter für die 16-Jährige, einer, der an sie geglaubt und ihr Mut gemacht hat, als sie sich schon längst aufgegeben und voller Verzweiflung beschlossen hatte, ohne Schulabschluss die Stadtteilschule Öjendorf zu verlassen. Das war vor fast einem Jahr und inzwischen hat das Mädchen nicht nur den Ersten allgemeinbildenden Schulabschluss (ESA) – ehemals Hauptschulabschluss – in der Tasche, sondern rechnet auch fest mit einem Ausbildungsplatz in einer Logistikfirma im Hamburger Hafen.

Dabei waren es nur fünf Tage im März vergangenen Jahres, die Michelle den Kick gaben, um voller Zuversicht und Selbstbewusstsein im Mai in ihre mündliche Englischprüfung zu gehen – und mit „befriedigend“ zu bestehen. Und es klingt fast ein wenig kitschig, wenn sie sagt, dass diese fünf Tage im Mut-Camp in Mölln, die besten gewesen seien, die sie bisher in ihrer Schulzeit erlebt habe: „Nach diesem Camp war ich ein anderer Mensch, ich war plötzlich ohne Angst, stattdessen voller Mut und Vertrauen in mich.“

Das klingt fast wie Magie, und genau solche Momente beschreiben Philipp Arlt und seine Mitstreiterin Freda von der Decken, wenn sie von der Arbeit in den von ihnen organisierten Mut-Camps berichten.

Die beiden 30-Jährigen sind 2014 über die Bildungsinitiative „Teach First“ Deutschland nach Hamburg gekommen. Der deutsche Ableger des weltweiten Netzwerks „Teach for all“ vermittelt Uni-Absolventen für zwei Jahre als Lehrer auf Zeit an Schulen. Der studierte Wirtschaftsingenieur Arlt unterrichtete Mathe, Naturwissenschaften und Sport an der Stadtteilschule Öjendorf, die Staatswissenschaftlerin von der Decken Deutsch, Englisch und Mathe an der Stadtteilschule Süderelbe. Beide waren also mittendrin in den sozialen Brennpunktschulen der Stadt und zunächst geschockt, auf Schüler zu treffen, die frustriert, aggressiv oder komplett passiv waren und keine Chance für sich sahen, noch einen Schulabschluss zu bekommen.

„Die Schüler haben mich an die schreckliche Klasse von Herrn Müller beim Filmhit ,Fack ju Göhte‘ erinnert“, sagt Philipp Arlt, nicht wissend, dass Michelle zuvor einen ähnlichen Vergleich zog. „Ich habe diese Schüler quasi alleine unterrichtet, weil die Mathelehrerin selber ausgebrannt war.“

Freda von der Decken hatte einen Kurs von Zehntklässlern übernommen, die alle keinen Abschluss hatten und nur noch ihre Schulzeit absaßen. „Bei denen bin ich gescheitert. Die haben alles boykottiert, was ich gemacht habe, sind aus dem Fenster geklettert, haben die Tür von innen zugehalten und nur Blödsinn gemacht“, sagt die junge, selbstbewusste Frau.

Andere junge Akademiker hätten in dieser Situation vielleicht resigniert, doch Freda von der Decken, Philipp Arlt und eine weitere Teach-First-Kollegin, Natalie Rappert, entwickelten stattdessen in wenigen Monaten das Konzept eines Mut-Camps, das besonders gefährdete Schüler auf die mündliche Abschlussprüfung des ESA in Mathe oder Englisch intensiv in fünf Tagen vorbereitet. Seit 2015 führen sie im Frühjahr und Herbst diese durch Spenden finanzierten Camps mit jeweils 36 Schülern in Jugendfreizeitheimen rund um Hamburg durch. Die Schüler zahlen nur 30 Euro. Dafür bekommen sie ein durchstrukturiertes Lernprogramm, bei dem sie sehr intensiv und individuell auf ihre mündliche Prüfung vorbereitet werden.

Die Kleingruppen werden von Arlt und von der Decken sowie deren Freunden und anderen Teach-First-Fellows geleitet. „Das Wichtigste sind Lob und Anerkennung, die sie für jeden einzelnen Schritt bekommen. Wir feiern jeden noch so kleinen Erfolg mit den Schülern und benennen ihre Stärken, machen ihnen so Mut, an sich zu glauben“, sagt Arlt. Außerdem gibt es Pluspunkte für positives Verhalten wie Pünktlichkeit, Sauberkeit, gute Teamfähigkeit, keine Störung der Nachtruhe etc.

Die Schüler kommen aus sechs unterschiedlichen Stadtteilschulen, vorgeschlagen werden sie von Lehrern und anderen Teach-First-Fellows. „Dadurch, dass die Schüler sich nicht kennen und aus ihrem gewohnten Umfeld rausgeholt werden, müssen sie auch nicht in ihre alten Rollen als Klassenclown, Rührmichnichtan oder Obermacho verfallen“, sagt von der Decken.

Michelle hat so zum ersten Mal durch das Mut-Camp eine „völlig ruhige und entspannte Klassenatmosphäre erlebt“ und Yuliang von der Ilse-Löwenstein-Schule erstmals keine Hänseleien. Der 17-Jährige ist erst vor sechs Jahren aus China nach Hamburg gekommen und konnte damals kein Wort Deutsch sprechen. Inzwischen spricht er die deutsche Sprache fließend, dennoch wird er aufgrund seines asiatischen Aussehens und der etwas verschliffenen Aussprache in seiner Klasse gemobbt, wie er freimütig zugibt. „Früher war ich gut in der Schule. Doch in meiner Klasse habe mich zum Schluss gar nicht mehr zu Wort gemeldet und hatte riesige Angst davor, in die mündliche Englischprüfung zu gehen und frei zu sprechen“, erinnert Yuliang sich. Er sah keine Chance mehr für sich, einen Abschluss zu bekommen, und hatte auch wenig Lust auf das Mut-Camp. „Mein Lehrer und der Teach-First-Betreuer haben mich überredet“, sagt er und strahlt plötzlich. „Das war die beste Entscheidung meines Lebens.“ Denn er fand dort nicht nur neue Freunde und Anerkennung für seine Leistung, sondern ging anschließend auch völlig entspannt in seine mündliche Englischprüfung, die er mit einer Drei plus bestand. Auch er hat nun einen Abschluss und strebt eine Berufsausbildung an.

Zuvor hatte der Chinese im Mut-Camp eine sehr gute Probe-Prüfung abgelegt. Diese „Mutprobe“, wie die Camp-Erfinder sie nennen, ist der Höhepunkt der Lerntage. Die Schüler müssen ihre Themen und Plakate, die sie in den vier Tagen zuvor erarbeitet haben, vor fremden Menschen präsentieren. „Zu diesem Termin kommen Freunde, Firmenmitarbeiter und Sponsoren aus Hamburg extra angereist. Auch das empfinden die Schüler als große Wertschätzung“, erklärt Philipp Arlt. Bisher haben 96 Prozent der Camp-Teilnehmer anschließend ihren Ersten allgemeinbildenden Abschluss geschafft.

„Das Problem ist jedoch, dass sie danach wieder den Mut verlieren und durchhängen, weil viele den Mittleren Abschluss nicht schaffen und auch nicht wissen, was sie beruflich machen sollen“, erklärt Freda von der Decken.

Deswegen haben die beiden im vergangenen Jahr das Konzept um ein einjähriges Stipendienprogramm mit Mentorenbetreuung, einzelnen Seminartagen und weiteren Camps rund um die Berufsfindung erweitert. Zudem haben sie die gemeinnützige Mut-Academy gegründet, deren Gesellschafter und Leiter sie sind.

Finanzielle Unterstützung für ihre großartige Arbeit erhalten sie vor allem von der Firma Barcleycard und Sponsoren wie dem Abendblatt-Verein „Kinder helfen Kindern“. „Wir brauchen aber unbedingt noch Spenden“, sagt Freda von der Decken.

Sie hat dafür ihre feste Arbeit bei den „Joblingen“ gekündigt und Phillip Arlt seine potenzielle Ingenieurkarriere vorerst an den Nagel gehängt. „Für mich sind diese Camps und die Unterstützung der Schüler das Sinnerfüllendste, was ich mir vorstellen kann. Ich möchte, dass diese Jugendlichen endlich eine Chance bekommen“, sagt Phillip Arlt.

Kontakt über facebook unter Mut Academy oder E-Mail: mut.academy@gmail.com