Hamburg. Länger als ein Jahr hat das Abendblatt eine Einheit der Hamburger Polizei begleitet. Heute: Menschen in Ausnahmesituationen.

Es ist kalt und ungemütlich am Abend des 11. Novembers 2022, als sich die ersten Anrufer melden. Aufgeregt berichten Anwohner von einem Mann, der durch Jenfeld irrt – bewaffnet mit einer Machete. Wohin er will? Was er vorhat? Keiner weiß es. Ist der Mann zwar gestört, letztendlich aber harmlos? Oder droht ein Amoklauf?

Unmöglich scheint nichts mehr nach dem Mord mit einer Machete in Stuttgart im Jahr 2019 oder nachdem 2020 in Conflans-Sainte-Honorine, dem ruhigen Vorort von Paris, ein Islamist einen Lehrer auf der Straße enthauptete. Die Kommissariate in Rahlstedt, Wandsbek und in Billstedt schicken alles raus nach Jenfeld, was sie an Wagen haben. Die Nachrichten über Funk überschlagen sich. Jetzt melden sich Nachbarn und erzählen, der Macheten-Mann sei zurück in seiner Wohnung und starre aus dem Fenster. Inzwischen ist die Straße in blaues Licht getaucht, so viel Polizei ist eingetroffen. Polizisten mit Maschinenpistolen sind darunter.

Polizei Rahlstedt: Psychologin begutachtet den Mann mit der Machete

Jan Stahmer, der Dienstgruppenleiter aus Rahlstedt, geht mit einem stichfesten Schild voran. Schon im Hauseingang kommt ihm ein Mann von etwa 30 entgegen, jetzt ohne Machete. Er lässt sich ohne jeden Widerstand festnehmen und zur Wache bringen. Später wird der Mann von Kindern erzählen, die er unter der Couch in seinem Wohnzimmer gesehen habe. Von Kindern wird er reden, die ihn von dort mit Pfeilen attackiert hätten. Und gegen die er sich mit Pfefferspray habe wehren müssen. Und als auch das Pfefferspray nicht gegen die (vermeintlichen) Quälgeister half, machte er sich mit der Machete auf nach draußen, sagt der Mann, nennen wir ihn hier Pascal. Vermutlich war es einfach nur Glück, dass er draußen auf der Straße an diesem Abend keine Kinder angetroffen hat.

Länger als ein Jahr lang hat das Abendblatt die A-Schicht begleitet

Das Abendblatt hat eine Einheit der Hamburger Polizei, die A-Schicht am Polizeikommissariat 38 (PK38), länger als ein Jahr begleitet. Wie auch an diesem Novemberabend, als sich in der Wohnung den eingesetzten Beamten ein ekliges Bild offenbart. Die Räume sind vermüllt, es stinkt nach einer Mischung aus Cannabis, Pfefferspray, das Pascal gegen die „Kinder unter der Couch“ eingesetzt hat, und etwas, was hier nicht hergehört.

Die Waffensammlung des Mannes ist beachtlich: Am Handgriff der Machete hat er – entgegengesetzt zur Klinge – ein geöffnetes Butterflymesser mit Klebeband befestigt. Polizisten finden bei der Durchsuchung etwas, das aussieht wie eine Muskete, Munition, diverse Messer, eine Axt, einen Bogen und ein Blasrohr mit Pfeilen. Die Liste der Asservate ist damit noch lange nicht am Ende. Kokain in einem Tütchen, Sachen, die aussehen wie Betäubungsmittel, und eine Spritze kommen noch dazu. Jedes einzelne Stück muss dokumentiert und fotografiert werden für die weiteren Ermittlungen, die von zwei unterschiedlichen Dienststellen im Landeskriminalamt weitergetrieben werden – der für Waffen- und der für Betäubungsmitteldelikte.

Zwei Polizisten der A-Schicht teilen sich die Katalogisierung auf, jeder von ihnen sitzt mehr als eineinhalb Stunden daran. Übrigens: Auch ein Jahr nach diesem Novemberabend 2022 ist der Fall noch immer nicht abschließend behandelt vor Gericht. Aber dazu später mehr.

Die Verantwortung der Expertin ist groß

In der Arrestzelle versucht die herbeigerufene Psychologin sich ein Bild über die geistige Verfasstheit des Machetenmannes zu machen. Soll sie ihn vorübergehend in der Psychiatrie unterbringen lassen? Auch gegen seinen Willen? Oder kann sie es riskieren, ihn gleich wieder laufen zu lassen? Die Verantwortung ist groß. Pascal spricht weiterhin von den Kindern, die ihn gequält hätten. „Ich bin nicht psychisch krank, die Kinder waren da“, behauptet er unbeirrt. Und die Gutachterin? Sie lässt Pascal gehen …

„Auch wenn ich solche Entscheidungen wie einen persönlichen Misserfolg empfinde, so lässt mich das nicht am System zweifeln“, sagt Einsatzleiter Jan Stahmer später in der Nacht. Übrigens: Offensichtlich lag die Gutachterin nicht ganz falsch mit ihrer Einschätzung: Jan Stahmer und seine Kolleginnen und Kollegen hören in den folgenden Monaten nichts mehr von dem Machetenmann. „Das spricht für die Einschätzung der Psychologin, auch wenn ich mir an dem Abend ein anderes Ergebnis gewünscht hätte“, sagt der Hauptkommissar.

Mails mit wirren Texten, gestörte Menschen in der Zelle

Immer wieder werden Stahmer und seine Leute mit Menschen konfrontiert, die im Zustand schwerer Störungen teils furchtbare Verbrechen begehen. Wie mit dem psychisch kranken Somalier, der seinen Vater mit einem Messer regelrecht niedergemetzelt hat. Oder mit der jungen Mutter eines drei Monate alten Babys, die sich in ihrem Todeswunsch 24-mal mit dem Messer in den Bauch stach, oder die Frau, die den Teufel aus ihrem Baby austreiben wollte und das Kind dabei erstickte.

Die Polizei hat es vermehrt zu tun mit Menschen, die nicht beieinander sind – wie mit dem Mann, der in einer verglasten Zelle an der Rahlstedter Wache onanierte, oder dem Mann, der sich die Hornhaut von den Füßen rubbelte, um sie zu essen. Oder mit der Frau, die ohne nachzulassen sang und tanzte. „Wir haben nahezu in jedem Dienst den sicheren Raum in der Wache belegt mit Leuten, die dem Amtsarzt vorgeführt werden sollen“, sagt Stahmer.

„Wir müssen funktionieren. Nach uns kommt keiner.“

Die große Gefahr: Diese Menschen sind schlecht berechenbar. „Ich stehe lieber jemandem gegenüber, der seine Grenzen kennt; Leuten, die man lesen kann, auch weil sie die gleichen Emotionen haben wie du und ich“, sagt Stahmer. Er und seine Dienstgruppe haben zu tun mit Menschen, die Stimmen hören, wo nichts zu hören ist. Die Kinder sehen, wo keine sind. Die von paranoiden Wahnvorstellungen geplagt sind und unter Psychosen leiden. Nur: Was folgt daraus? Wie sollen sie umgehen mit einem bewaffneten Menschen, der nicht reagiert auf Ansprache? Der sprunghaft umschaltet von einer Selbstgefährdung in Aggression gegenüber der Polizei?

Neuen Kollegen in der Dienstgruppe impft Stahmer ein: Versucht euch vorzustellen, dass alles, wirklich alles, möglich ist. Es gibt nichts, was es nicht gibt. „Das ist ein Schutzmechanismus, sodass man am Tatort nicht überrascht wird vom Momentum.“ Seine Botschaft an die jungen Polizisten im Streifendienst: „Wir müssen funktionieren. Nach uns kommt keiner.“

Langjähriger Polizeipräsident warnt vor psychisch auffälligen Tätern

Am Kommissariat werden sie zugespamt mit Mails voll wirrer Texte und Fantasien. „Einer, der uns zig Mails geschickt hatte, hat später in Bergedorf zwei Kollegen krankenhausreif geschlagen“, sagt Jan Stahmer. Die Polizisten hatten trotz des Einsatzes von Pfefferspray und Schlagstock gegen den Kampfsportler keine Chance.

Seinen Eindruck, dass es immer mehr psychisch auffällige Menschen gibt und dass die Polizei gesellschaftliche Fehlentwicklungen aushalten muss, bestätigt der langjährige Hamburger Polizeichef Ralf Martin Meyer. Er spricht von einer spürbar steigenden Zahl entsprechender Einsätze. „Das Schwierige ist: Menschen in psychischen Ausnahmesituationen sind im Hinblick auf ihr Verhalten häufig wenig steuerbar. Das kann im Einsatz erhebliche Risiken mit sich bringen.“

Dienstgruppenleiter Jan Stahmer am Funkgerät im Streifenwagen.
Dienstgruppenleiter Jan Stahmer am Funkgerät im Streifenwagen. © Michael Rauhe / Funke Foto Services | Michael Rauhe

Wie für das Team des PK 38, als es zu einem Mann gerufen wird, der am Telefon um Hilfe bittet. Er fleht die beiden Polizisten vor Ort beinahe darum an, mitgenommen zu werden. Ohne Erfolg, das hier ist kein Fall für die Polizei. Bis der Mann ansatzlos einem der beiden Rahlstedter Polizisten die Wangenknochen zertrümmert – nur um einen Grund geliefert zu haben, in Arrest genommen zu werden.

Noch immer kein Urteil – Gutachter muss Waffen untersuchen

„Das Thema wird uns mehr und mehr beschäftigen“, glaubt Meyer. Wichtig ist daher, die Ausbildungs- und Einsatzkonzepte weiterzuentwickeln und für bestmögliche Ausrüstung zu sorgen. Meyer nennt in dem Zusammenhang den Einsatz von Elektroschockpistolen („Tasern“) und von Schulterkameras („Bodycams“) wichtige Einsatzmittel zur Deeskalation.

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Ein anderer Fall am PK 38 mit ähnlicher Ursache: Passanten melden unmittelbar nach dem Amoklauf an der Deelböge mit sieben erschossenen Zeugen Jehovas einen jungen Mann mit Sturmgewehr und Schutzweste am Farmsener Bahnhof. Nach zuletzt teils massiven Auseinandersetzungen im dortigen Drogenmilieu kann die Polizei auch einen Racheakt nicht ausschließen. Doch statt eines schwer bewaffneten Dealers, der mit der Konkurrenz abrechnen will, stößt sie auf einen herumirrenden 19-Jährigen. 22 Peterwagen sind im Einsatz wegen eines Mannes mit Softair-Waffe, der von sich sagt, er sei radikal links und vor allem „ständiger Konsument von Marihuana“.

Die Dienstgruppe A des Polizeikommissariats 38 an der Scharbeutzer Straße in Rahlstedt im vergangenen Sommer.
Die Dienstgruppe A des Polizeikommissariats 38 an der Scharbeutzer Straße in Rahlstedt im vergangenen Sommer. © Michael Rauhe | Michael Rauhe

Zurück zu dem Mann mit der Machete: Für den 21. November 2023, also ein Jahr nach dem großen Polizeieinsatz, hat das Amtsgericht Wandsbek zur Verhandlung geladen. Angeklagt ist ein 29-Jähriger wegen eines Vergehens nach Paragraf 52, Absatz 3 des Waffengesetzes. Ein Urteil fällt aber immer noch nicht. Weil der Angeklagte behauptet, die Waffe sei „nicht funktionstüchtig“, muss jetzt erst einmal ein Gutachter ran. Und das dürfte weitere Monate dauern …