Leben mit Behinderung: Wie Eltern behinderter Kinder ihre Krankenkassenansprüche durchbekommen, erklären Kerrin Stumpf und Iris Mydlach.

Eltern schwerbehinderter Kinder sind auf die Zusammenarbeit mit den Krankenkassen angewiesen: Sie benötigen Hilfsmittel und Therapien, um den Alltag zu meistern. Wie schwierig diese Zusammenarbeit oft für Pflegende und Menschen mit Behinderung ist und wie sie ihre Ansprüche dennoch geltend machen können, darüber geben Kerrin Stumpf und Iris Mydlach in der neuen Folge des Podcasts „Von Mensch zu Mensch“ Auskunft.

Mydlach moderiert sonst diesen Podcast, doch in dieser Folge wechselt sie ausnahmsweise die Seiten und spricht als Betroffene über ihre Rolle als pflegende Mutter eines Sechsjährigen mit einem Hirnschaden. Stumpf leitet den Verein „Leben mit Behinderung Hamburg Elternverein“, ist Juristin und pflegt ihren schwerstbehinderten Sohn Pelle (21). Einig sind sich beide, dass es für Betroffene wichtig ist, sich über Elternvereine oder Sozialverbände Unterstützung zu holen, um gemeinsam ihr Recht bei Krankenkassen einzufordern.

Welche Erfahrungen haben Sie bei der Antragstellung für Ihr Kind oder Vereinsmitglieder mit Krankenkassen gemacht?

Kerrin Stumpf: Wir beraten viele Tausend Eltern dazu. Diese Verfahren sind eine große Belastung für Familien. Sie sollten eine Hilfe sein, es handelt sich um Versicherungsleistungen. Faktisch ist es aber so, dass man einen Antrag für ein Hilfsmittel sehr gut vorbereitet stellen muss, sonst hat man kaum eine Chance, dass man es auch bekommt.

Iris Mydlach: Ich war anfangs immer überrascht, wenn ich eine Ablehnung des Antrags erhalten habe. Denn das Hilfsmittel war ja vom behandelnden Arzt verordnet worden. Doch die Kasse schaltet dann den Medizinischen Dienst ein und lässt die Verordnung durch einen eigenen Arzt überprüfen, der unser Kind nie untersucht, nie gesehen hat, aber in einem Gutachten Dinge behauptet, die nicht stimmen. Daraus folgt dann die Ablehnung.

Entschieden wird nur noch nach Aktenlage

Stumpf: Durch die Corona-Situation wurde in den letzten beiden Jahren nur noch nach Aktenlage entschieden, es gab keine Hausbesuche mehr. Das ist nun leider Standard geworden.

Hat es dadurch eine Zunahme an Ablehnungen gegeben?

Stumpf: Ja, und kurze Fristen. So sollten Anträge innerhalb von drei Wochen weiter begründet werden. Das ist für viele Familien zu kurzfristig. Die Prüfung der Krankenversicherung selbst kann dann bis zu einem Jahr dauern.

Wie empfinden Sie es, immer wieder mit Krankenkassen kämpfen zu müssen?

Mydlach: Ich habe irgendwann verstanden, dass die Krankenkassen nicht auf meiner, sondern auf der anderen Seite stehen. Ich arbeite Vollzeit und bin abends oft noch über Stunden mit der Formulierung von Widersprüchen beschäftigt. Das raubt Zeit, Kraft und Nerven.

Eltern sind immer Bittsteller - das frustriert

Stumpf: Für die Eltern ist es belastend, dass sie Bittsteller bleiben, obwohl alle von Inklusion sprechen. Man fragt uns: Warum ist das immer noch so schwierig mit den Anträgen, eigentlich sind wir doch eine offene Gesellschaft? Aber die Wirklichkeit zu Hause ist eine ganz andere. Da werden von der Kasse auch mal regelmäßige Zahlungen von 125 Euro – die ergänzende Betreuungsleistung, auf die jeder mit einem Pflegegrad ein Anrecht hat – gestrichen. Vielleicht weil es einen neuen Sachbearbeiter gibt, der nicht informiert ist. Man muss hinter kleinen Dingen her sein. Das ist zermürbend.

Der Podcast „Von Mensch zu Mensch“  stellt Menschen vor, die für Inklusion kämpfen.
Der Podcast „Von Mensch zu Mensch“ stellt Menschen vor, die für Inklusion kämpfen. © Hamburg | Podcast Von Mensch Zu Mensch

Welche Motivation könnte hinter den Ablehnungen stecken?

Stumpf: Die Kassen sind eben Kostenträger und achten darauf, dass die Kosten unter Kontrolle bleiben. Das ist ihre Rolle.

Wenn wir als Abendblatt-Verein zum Beispiel ein Gerät wie ein Handbike oder Ähnliches spenden, weil es aktuell von dem Kind benötigt wird, beruft sich die Krankenkasse später auf die Spende und erstattet die Kosten nicht, auch wenn ihr Klient im Nachhinein vom Sozialgericht Recht bekommt mit seinem Anspruch.

Stumpf: Das ist leider so. Doch wenn man zum Beispiel ein Handbike benötigt, ist das nicht nur gut für die Teilhabe des Kindes, weil es sich vielleicht alleine mit Freunden treffen kann, sondern es gibt auch medizinische Gründe: Es stärkt die Schultern. Das muss man vortragen.

Deswegen ist es für Eltern so wichtig, sich in einer Gemeinschaft zu organisieren. Natürlich kann man den Rechtsweg gehen, aber es kann Jahre dauern, bis man den gewinnt. Da hilft es enorm, wenn man einen Elternverein an der Seite hat, der einen im Antragsverfahren unterstützt. Diese Solidarität untereinander gibt auch wieder Kraft.

Das Leben mit den Kindern ist eine Bereicherung

Mydlach: Ich merke als Mutter, wenn ich alleine tief in diesem System drinstecke und mit Widersprüchen befasst bin, dass mein Kind dort nur als Kostenverursacher gesehen wird, als ein ständiges Problem. Das ist eine sehr belastende Perspektive auf das eigene Kind, die für Eltern äußerst schmerzhaft ist. Deswegen ist der Austausch mit anderen Eltern so wichtig, um einfach mal wieder zu hören und zu sagen, wie wundervoll unsere Kinder sind, wie schön das Leben mit ihnen ist. Dass sie genau richtig sind, so, wie sie sind.

Die AOK gab bei einer kürzlich von mir beschriebenen Familie an, dass der beantragte Arm- und Beintrainer für das Krankheitsbild der Muskelatrophie, die der Sohn hat, als Hilfsmittel anerkannt ist. Problem: Es gibt an dem Gerät einen Spastikschalter. Da der Antragsteller jedoch keine Spastik hat, war das der Grund für die Ablehnung. Das klingt für mich absurd.

Stumpf: Absolut, aber wenn man als Pressevertreterin dann näher rangeht und bei der AOK nachfragt, dann ist plötzlich doch wieder alles möglich. Das kennen wir vom Elternverein auch.

Kerrin Stumpf mit ihrem Sohn Pelle (21).
Kerrin Stumpf mit ihrem Sohn Pelle (21). © Roland Magunia/Funke Foto Services | Roland Magunia

Ist es zulässig, wenn eine Ablehnung durch einen Krankenkassen-Mitarbeiter mündlich erfolgt?

Stumpf: Das ist nicht unzulässig. Man sollte immer auf einer schriftlichen Ablehnung bestehen. Nur dagegen kann man rechtlich vorgehen. Die Telefonate sind ein Trick und frustrieren die antragstellende Person.

Mydlach: Ich breche diese Anrufe gleich ab und bitte um schriftliche Mitteilung.

Eine Struktur der Abblockung

Einige Krankenkassen haben Callcenter – das heißt, man hat nicht immer den gleichen Sachbearbeiter am Telefon, fängt unter Umständen immer wieder von vorne an mit seiner Geschichte. Ist das Taktik?

Stumpf: Ich vermute, dass es hier eine Struktur gibt, die abblockend wirkt.

Einer Mutter, über die ich geschrieben habe, wurde von einem Krankenkassen-Mitarbeiter gesagt, dass sie ihren jugendlichen Sohn besser in ein Pflegeheim geben sollte. Was für ein Menschenbild steckt dahinter?

Stumpf: Ich kann mir vorstellen, dass der Sachbearbeiter das als gute Lösung ansah, damit die Frau entlastet wird. Aber die Beratung war hier völlig falsch, denn der junge Mann möchte nicht unter alten Menschen im Seniorenheim, sondern mit Assistenz zu Hause wohnen. Dazu hätte der Sachbearbeiter beraten sollen, wie das am besten möglich ist.

Den ganzen Podcast kann man hören unter: https://www.abendblatt.de/podcast/von-mensch-zu-mensch/

Beim Verein Leben mit Behinderung Hamburg haben sich 1500 Familien mit einem behinderten Angehörigen zusammengeschlossen. Der Verein berät, bietet Arbeit, Wohnmöglichkeiten und Freizeitangebote. Weitere Infos unter: www.lmbhh.de