Rund 21.300 Senioren bekommen in Hamburg Transferleistungen, weil die Rente allein zum Leben nicht reicht. Hildegard Stahl ist eine von ihnen Von Hanna Kastendieck

Manchmal steht Hildegard Stahl mitten in der Nacht auf. Zieht sich ihren dunklen Mantel an und die festen Schuhe und läuft los. Die Breite Straße hinunter bis an die Elbe. Oder den Berg hinauf zur Reeperbahn. Dann schaut sie durch die Fenster in die Kneipen und Bars, sieht die Menschen an ihren Tischen, mit Bier und Wein in der Hand. Lachend. Unbeschwert. Manchmal ist ihr, als sähe sie sich selbst. Damals, vor 50 Jahren. Eine junge Frau mit schickem, kurzem Rock, die die Gegenwart genießt und nicht an morgen denkt. „Damals“, sagt sie, „haben wir das Geld, das wir verdienten, ausgegeben. Wir haben nicht daran gedacht, etwas für später zurückzulegen. Der Gedanke an eine private Altersvorsorge existierte damals nicht. Wir haben gelebt. Und nicht gerechnet.“

Genau rechnen, das muss die 76-Jährige, seitdem sie in Rente ist. Weil das Geld hinten und vorne nicht reicht. Nicht für ein paar feste Schuhe, für einen warmen Mantel, nicht für den Friseurbesuch und schon gar nicht für eine neue Waschmaschine. Es gibt Tage, da ist der Kühlschrank gähnend leer. Zum Monatsende bleibt nichts als Verzicht. Ein paar Eier hat sie noch und Margarine, Instantkaffee von Aldi und Kaffeeweißer. Sie weiß manchmal nicht, wie sie es schaffen soll.

Hildegard Stahl ist eine von vielen. 21.329 sind es derzeit in Hamburg. Senioren im Alter von 65 und mehr Jahren, die auf Transferleistungen zur Armutsbekämpfung angewiesen sind. Sie leben unauffällig. Allein. Die Scham hindert sie oft daran, mit anderen über ihre Situation zu sprechen. Dann, wenn nach einem Leben voller Schufterei für viele der ersehnte Lebensabend kommt, in dem man endlich all das tun kann, was man schon immer wollte, hat eine immer größer werdende Zahl an Menschen immer weniger Geld zum Leben. Sie können sich gesellschaftliche Teilhabe, Kaffeefahrten, Vereine nicht leisten. „Das Schlimmste ist die Vereinsamung“, sagt Hildegard Stahl. Es gebe einfach keine Lichtblicke mehr.

Insgesamt leben 39.531 Menschen über 50 Jahren in Hamburg von Grundsicherung. Menschen, von denen viele ihr Leben lang gearbeitet haben. Jetzt sitzen sie in der Falle. In der „Armutsfalle“, wie Diakoniesprecher Steffen Becker sie nennt. „Altersarmut ist in der Regel lebenslange Armut. Sie dauert bis zum Tode an.“ Das Problem der Altersarmut wachse, weil der Niedriglohnsektor sich ausweite und die Sozialleistungen wie Hartz IV keine ausreichenden Rentenansprüche bewirkten, sagt Becker. „Die Leute sind immer mehr darauf angewiesen, private Vorsorge zur Rente abzuschließen. Das können sich viele nicht leisten, weil das Gehalt zu gering ist, um etwas für das Alter zurückzulegen.“

Die Prognosen sind erschreckend: Ab 2030 wird jeder dritte Rentner von seiner Rente nicht leben können, also unter 700 Euro im Monat zur Verfügung haben. Dieses Schicksal droht all jenen, die aktuell 2500 Euro brutto verdienen und 35 Jahre Vollzeit gearbeitet haben. Ihnen bliebe gerade noch eine Rente in Höhe des Grundsicherungsbetrags von 688 Euro.

Auch Hildegard Stahl hatte einen Beruf. Sie hat als Friseurin gearbeitet, in Bars gejobbt. Später geheiratet, eine Tochter großgezogen. Ihr Mann wollte, dass sie zu Hause bleibt, sich um das Kind kümmert. Als ihre Tochter aus dem Haus war, ging die Ehe auseinander. Da stand Hildegard Stahl kurz vor ihrem 50. Geburtstag. Eine feste Anstellung suchte sie vergeblich.

„Ich hätte gern in meinem Beruf gearbeitet“, sagt sie. Stattdessen putzte sie, kaufte für eine ältere Dame ein, führte den Hund aus, um ihr Taschengeld aufzubessern. Davon eine Rente ansparen? Undenkbar.

Also muss das Amt helfen. Es trägt die Miete für die 44,48 Quadratmeter große Wohnung im Erdgeschoss des alten Backsteinbaus, übernimmt Heizung, Strom und Wasser. Nach allen Abzügen landen am Monatsanfang 311 Euro auf dem Konto der alten Dame. Davon zahlt Hildegard Stahl Medikamente und Telefonkosten, Reparaturen und Kleidung, manchmal ein Geschenk für ihren Enkelsohn. Und natürlich alle Lebensmittel. Sie hat sich damit abfinden müssen, dass die Waschmaschine nicht mehr funktioniert, die Jalousien im Wohnzimmer kaputt sind. Ihre letzten Ersparnisse hat sie für einen neuen Kühlschrank ausgegeben. Das allergrößte Problem für die alte Dame ist, dass das Geld nicht mehr für die Teilhabe am öffentlichen Leben reicht. Sogar die HVV-Karte habe sie kündigen müssen, sagt Hildegard Stahl. Und auf öffentliche Veranstaltungen zu gehen, traue sie sich nicht, weil sie keine anständigen Schuhe mehr habe.

Die wollte sie sich im vergangenen Dezember leisten, dazu ein Weihnachtsgeschenk. Sie hatte extra monatelang dafür gespart. Am 3. Dezember hob sie 280 Euro vom Bankautomaten ab. Nur wenige Meter von der Bank entfernt wurde sie von zwei maskierten Männern überfallen. Sie nahmen der alten Dame alles Geld ab. Ihre Winterjacke, die sich ein paar Tage zuvor gekauft hatte, wurde dabei zerrissen. Verzweifelt wandte sie sich an die Abendblatt-Redaktion „Von Mensch zu Mensch“, bekam dort neben ein wenig Trost auch finanzielle Unterstützung. Die Bitte um Hilfe hat sie viel Überwindung gekostet. „Doch das war wie ein Rettungsanker und hat mir etwas Kraft gegeben, nach vorne zu blicken“, sagt sie.