Grenzen austesten, selbstbewusst werden – im Zirkus Willibald können Kinder sich ausprobieren. Das Projekt wird 20 Jahre alt.

Hätte er damals diesen Lehrer nicht gehabt. Diesen Mentor und Förderer, der ihn an die Hand nahm und an ihn glaubte. Wilhelm Kelber-Bretz wäre vielleicht nie rausgekommen aus diesem hessischen Kleinstadtmilieu. Statt des Abiturs hätte er nur einen Realschulabschluss gemacht. Anschließend eine handwerkliche Ausbildung im väterlichen Betrieb. Er wäre sicher nicht nach Afrika in die Entwicklungshilfe gegangen. Und hätte nie erlebt, wie gut es tut, mit Kindern und Jugendlichen zu arbeiten. Vielleicht hätte Wilhelm Kelber-Bretz zufriedene Kunden gehabt. Aber er hätte nie das Lampenfieber in der Manege kennengelernt. Die Freude einer gelungenen Aufführung. Und den Applaus, der erschallt, wenn es heißt: „Manege frei für Zirkus Willibald!“

Wilhelm Kelber-Bretz aber hatte Glück. Er hatte diesen Lehrer, der ihn trotz elterlicher Bedenken für das Gymnasium empfahl und damit auf einen Bildungsweg schickte, der für einen Jungen aus einfachem Hause damals eigentlich nicht vorgesehen war. Das hat ihn geprägt. Darum, sagt er, sei er selbst Lehrer geworden. Und engagiert sich seit 20 Jahren in einer ganz besonderen Form für die Kinder in Wilhelmsburg.

1993 gründete er an der heutigen Stadtteilschule Wilhelmsburg den Zirkus Willibald, einen Ort, an dem sich Kinder und Jugendliche ausprobieren dürfen und über sich hinauswachsen können, an dem sie wahrgenommen und gefördert werden. „Es sind häufig Kinder aus sozial schwachen Familien, Schüler, die im Elternhaus nur wenig Aufmerksamkeit erfahren“, sagt Kelber-Bretz. Kleine Menschen, die nicht wissen, welche großartigen Talente in ihnen schlummern.

Ihr Lehrer aber, der weiß das. Und er hat die Erfahrung gemacht, dass der Zirkus ein ziemlich effektives Angebot ist, um Kinder und Jugendliche selbstbewusster und stark zu machen. An diesem Sonnabend feiert der Zirkus sein Jubiläum mit dem Stück „Zirkus Willibald trifft Mimi Loop“. Etwa 100 Wilhelmsburger Kinder und Jugendliche – und einige Erwachsene aus dem Stadtteil – werden im Bürgerhaus auf der großen Bühne stehen.

„Ich hätte nie gedacht, dass es ein so langlebiges und erfolgreiches Projekt werden könnte“, sagt der 57 Jahre alte Mathe- und Sportlehrer. Die jüngsten Stars in der Manege gehen noch in die Kita. Die ältesten besuchen die sechste Klasse. Sie vereint die Lust an der Show, die Freude an der Bewegung und der Spaß am Wir-Gefühl. Hier lernen sie, dass sie Fehler machen dürfen. Oder vor etwas Angst haben können. Und sie erfahren, dass sie am Ende doch schaffen, was sie sich vorgenommen haben.

Das möchte Wilhelm Kelber-Bretz ihnen vermitteln: an sich zu glauben. Nicht aufzugeben. Denn manchmal läuft das Leben nicht nach Plan. Er weiß das aus eigener Erfahrung. Zwar bekommt er nach seinem Schulabschluss den begehrten Studienplatz an der Universität Göttingen. Doch trotz eines guten Examens findet er Mitte der Achtziger aufgrund der Lehrerschwemme keine Stelle. „Das war meine zweite Chance“, sagt er, der schon als kleiner Junge davon geträumt hatte, irgendwann in die Welt zu ziehen. Er geht nach Simbabwe in den Busch. Zweieinhalb Jahre lebt er in Afrika, baut eine Schule mit auf, unterrichtet und kümmert sich am Nachmittag um die Sport- und Freizeitaktivitäten der Schüler. „Die Kinder liefen die zehn Kilometer zur Schule barfuß“, erinnert er sich. „Sie hatten Hunger, Durst und keine Kleidung. Aber sie waren ungeheuer wissbegierig.“ Es sei die schönste Zeit seines Lebens gewesen, sagt er heute. Trotz der großen Armut, den vielen Entbehrungen und Krankheiten. Zurück in Deutschland findet er noch immer keine Anstellung im Schuldienst. Er arbeitet als LKW-Fahrer, in Fabriken und bekommt schließlich im Rahmen einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme die Chance, sich als Sozialbetreuer im Harburger Sportclub um Jugendliche und Senioren zu kümmern. Dort beginnt er mit den Sportlern zu jonglieren, zu zaubern und Clownnummern einzustudieren. Aus dieser Arbeit heraus entsteht die Idee für eine feste Zirkusgruppe. 1992 endlich bekommt Wilhelm Kelber-Bretz die lang ersehnte Lehrerstelle. Ein Jahr später gründet er den Zirkus Willibald.

Es gab gute und schlechte Zeiten für den Zirkus. Die anfängliche Euphorie weicht schon bald den realen Anforderungen. Die Zirkusarbeit kostet Geld. Und das muss eingetrieben werden. 2002 steht das Projekt kurz vor dem Aus. Der Senat verweigert die Zahlung der drei Lehrstunden pro Woche, die die Aktion kostet. Kelber-Bretz schreibt mögliche Förderer an. Der Abendblatt-Verein „Kinder helfen Kindern“ sichert seine Unterstützung zu. Bis heute.

Nicht immer einfach sei auch der Übungsalltag, „eine stetige Gratwanderung zwischen Lenken und Laufenlassen“, wie der Vater von zwei Söhnen es beschreibt. Wichtig sei aber nicht nur Freude an der Bewegung, denn „Höchstleistungen sind zweitrangig“, sondern das starke Gemeinschaftsgefühl, welches der Zirkus vermittle. Denn neben den Auftritten geht der Zirkus einmal im Jahr mit Bauwagen und Traktor auf Wanderfahrt. Wilhelm Kelber-Bretz ist immer dabei. Obwohl er seit 2001 nicht mehr ausschließlich an der Schule, sondern auch als Geschäftsführer des Forums Bildung Wilhelmsburg tätig ist. Er hat die Chance genutzt, das Projekt auf breitere Beine zu stellen. Seitdem dürfen nicht mehr nur seine Schüler daran teilnehmen, sondern Kinder aus dem ganzen Stadtteil. Jeden Montag von 14.30 bis 16 Uhr trainieren sie im Bürgerhaus an der Mengestraße 20. Der Auftritt am heutigen Sonnabend soll der Höhepunkt von 20 Jahren Zirkusarbeit sein.

Was danach kommt? Kelber-Bretz weiß es nicht. Trotz Finanzierungsproblemen wird er weitermachen, weil er sich nichts Spannenderes vorstellen kann, als die Arbeit auf der Elbinsel. In einem sozial schwachen Milieu mit überdurchschnittlich vielen Kindern mit Migrationshintergrund. Klar sei es schwierig, sagt er. Einerseits. Andererseits aber schlummere gerade dort ungeheures Entwicklungspotential.

Weitere Infos: www.zirkus-willibald.de