Seit 50 Jahren gibt es die Anonymen Alkoholiker in Hamburg. Betroffene helfen sich gegenseitig, reden und hören zu. Zwei Süchtige erzählen ihre Geschichte.

Die Fassade ist perfekt. Herr Schulz ist verheiratet. Er hat eine liebevolle Ehefrau, zwei gesunde Kinder. Morgens verlässt der 43-Jährige im Anzug mit Krawatte das Einfamilienhaus am Rande der Stadt. Er marschiert durch den gepflegten Vorgarten, steigt in den Wagen und fährt in die Firma. Herr Schulz hat einen wichtigen Posten mit Handlungsvollmacht. Die Kollegen schätzen ihn und seine Hilfsbereitschaft. Sie bewundern ihn für seinen Ehrgeiz. Sie mögen ihn, weil man mit ihm nicht nur viel schaffen, sondern auch richtig Spaß haben kann. Herr Schulz ist einer, der gern feiert und viel verträgt. Was sie nicht wissen: Ihr Kollege ist Alkoholiker. Einer, dem man es nicht ansieht. Einer, der sagt: "Alkoholiker? Das sind doch die Penner vor dem Bahnhof."

So einer wie Hermann. Er ist Anfang 30 und sitzt mit einer Knolle Astra auf dem Bahnhofsvorplatz. Er sitzt dort den ganzen Tag mit den anderen. Sie fangen schon morgens um zehn an zu trinken. Hermann hat auch einen Job. Er ist Vorarbeiter im Hafen. Aber er geht immer nur so lange arbeiten, bis er seinen Gehaltsscheck in der Hand hält. Den Rest des Monats macht er blau. Dann sitzt er vor dem Bahnhof, weil dort Menschen sind, die ihn auch mal in den Arm nehmen. Obwohl er aus dem Mund riecht, die Haare nicht kämmt und beim Sprechen lallt. Manchmal schaut er rüber in das kleine Café am Bahnhof. Er träumt davon, dort zu sitzen - wie die anderen Menschen. Bei einem Stück Kuchen und Kaffee. Er träumt von einem normalen Leben.

Die Wege von Gerd Schulz und Hermann, die beide ihren Namen nicht nennen möchten, treffen sich Mitte der 80er-Jahre bei den Anonymen Alkoholikern (AA). Sie haben sich an die Gruppe gewandt, weil sie wissen, dass sie so nicht weitermachen können. Sie hören dort einen Satz, der ihr ganzes Leben verändert. "Von nun an wirst du nie mehr alleine sein, wenn du es willst."

Die Anonymen Alkoholiker sind Frauen und Männer, die eingestanden haben, dass der Alkohol ein Problem für sie geworden ist. Sie bilden eine weltweite Gemeinschaft, in der sie einander helfen, nüchtern zu bleiben. Alle Mitglieder von AA sind Alkoholiker. Sie haben den Alkoholismus am eigenen Leib gespürt. Und in der Gemeinschaft gelernt, dies zum Stillstand zu bringen. Indem sie Tag für Tag ganz ohne Alkohol leben.

Sie können jederzeit einen Menschen aus ihrer Gemeinschaft anrufen, wenn der Druck zu groß wird.

Der Tag, an dem Hermann das erste Mal zum Hörer greift, ist der 22. November 1983. "Es war der wichtigste Tag in meinem Leben", sagt er heute. "Seitdem bin ich trocken." Sein halbes Leben hat der damals 32-Jährige getrunken. Der Alkohol gehört bei der körperlich anstrengenden Arbeit im Hafen einfach dazu. Er macht Schulden, die er nicht bezahlen kann, gerät an die falschen Leute und kommt ins Gefängnis. Seine Familie lässt ihn im Stich. Hermann fühlt sich verlassen - und trinkt. Im Februar 1983 hat er einen schweren Unfall. Ein Mann rennt ihm vor das Auto. "Ich hatte Grün", erinnert er sich, "konnte aber nicht mehr bremsen." Das Unfallopfer ist ein stadtbekannter Alkoholiker. Die Schuldfrage wird gar nicht erst gestellt. Nur der Fahrer weiß, dass auch er an diesem Tag mit Promille im Blut unterwegs ist. Das Schuldgefühl ist riesig.

Bei Gerd Schulz ist es ein schleichender Prozess. Als er sieben Jahre alt ist, kommt sein Vater ins Gefängnis. Seine Mutter lernt einen neuen Mann kennen. Der kleine Gerd fühlt sich verlassen, verweigert jede Nähe. "Ich fühlte mich von niemandem wahrgenommen", sagt er. Mit 17 zieht er aus, beendet seine Ausbildung als Jahrgangsbester und erfährt erstmals Anerkennung. Er arbeitet wie ein Besessener. 1963 heiratet er. Das Ehepaar bekommt zwei Söhne. Alles funktioniert nach außen. Doch Gerd Schulz merkt, dass er das alles nicht packt. In seinem Zwang nach Anerkennung, setzt er sich immer mehr unter Druck. Um zu funktionieren, beginnt er zu trinken. Erst sind es nur alle paar Tage ein, zwei Whisky. Aus den Gläsern werden Flaschen. Aus "ab und zu" wird jeder Abend. Er trinkt heimlich, erzählt seiner Frau Lügengeschichten. "Ich habe mich so geschämt." Anfang der Achtziger spricht ihn sein Arzt auf sein Alkoholproblem an. Gerd Schulz zeigt ihm einen Vogel. "Ich, ein Alkoholiker?", sagt er und denkt an die Penner auf dem Bahnhofsvorplatz. "So ein Quatsch." Insgeheim weiß er, dass sein Arzt recht hat. Dass er nicht nur sein Leben, sondern auch das seiner Frau zerstört. Er weiß, dass er etwas tun muss. Im Dezember 1984 wendet er sich an die AA.

"Ich habe die Befreiung erlebt, über meine Sucht zu sprechen. Und ich habe über diese Gespräche gelernt, meine Einstellung zum Leben grundlegend zu ändern", sagt Schulz. "Ich muss nicht mehr perfekt sein." Er macht eine Psychotherapie, geht einmal in der Woche zum Treffen seiner AA-Gruppe. Und greift statt zur Flasche zum Hörer.

Auch Hermann hat seine Krankheit mithilfe der AA in den Griff gekriegt. "Nach dem Unfall wusste ich, jetzt muss Schluss sein", sagt er. Zu diesem Zeitpunkt wiegt der 1,93 große Mann nur noch 68 Kilo. "Ich habe Blut gespuckt und wollte sterben", sagt er. Der Arzt verschreibt ihm eine Therapie. Dort bekommt er die Kontaktadresse der AA. Er findet Menschen, die ihm seine Würde zurückgeben. Er findet Verständnis, Geborgenheit und Halt. Ein Jahr später lernt er seine Frau kennen. Er wird zweimal Vater, bekommt eine neue Anstellung. Und geht seit 29 Jahren jeden Freitag zum Gruppentreffen der AA. Manchmal nimmt er sich auf dem Weg dorthin Zeit für ein Stück Kuchen im Café am Bahnhofsplatz.