Kristin Behrmann und Hans-Joachim Seng sind Asperger-Autisten. Über die Krankheit haben sie ein Kinderbuch geschrieben.

Hamburg. Als Hajo Seng ein kleiner Junge war, sagten die Großen über ihn, er sei ein Träumer. Die Kinder in seiner Klasse hielten ihn für durchgeknallt. Die Lehrer glaubten, er sei nicht schulfähig. Und die Eltern meinten, nicht ihr Sohn wäre das Problem, sondern die anderen. Hajo hatte keine Freunde. Statt in den Unterricht schlich er in den Wald. Dorthin, wo er allein sein konnte. Stundenlang beschäftigte sich der Junge mit mathematischen Fragestellungen und Astronomie. Er begriff schnell. Viel schneller als die anderen. Aber wenn es drauf ankam, war er oft weit weg mit seinen Gedanken. Er war ein Außenseiter. Einmal sagte jemand zu ihm: "Sei kein Frosch." Hajo Seng nahm das wortwörtlich. Er dachte lange darüber nach.

Als Kristin Behrmann ein kleines Mädchen war, sagten die Großen über sie, sie sei eine Träumerin. Die Mitschüler ärgerten sie, weil sie anders war. Die Lehrer lobten ihren Fleiß und ihre Hartnäckigkeit. Und die Eltern meinten, ihre Tochter sei hochintelligent. Kristin hatte keine Freunde. Andere Menschen bedeuteten Stress für sie. Jede Veränderung lehnte sie ab. Es ging ihr gut, wenn sie die Welt einfach nur beobachten konnte. Sie war eine Außenseiterin. Einmal sagte jemand zu ihr: "Du hast wohl Tomaten auf den Augen." Kristin Behrmann nahm das wortwörtlich. Sie dachte lange darüber nach.

Hajo Seng ist heute 49 Jahre alt. Kristin Behrmann ist 40. Sie haben ein Buch geschrieben. Es erscheint im November im "Papierfresserchens MTM-Verlag" und trägt den Titel: "Tomaten gehören nicht auf die Augen". Es ist ein Kinderbuch in Versen über ihre eigene Kindheit mit dem Asperger-Syndrom.

Asperger ist eine abgeschwächte Form des Autismus. Sie ist auf den ersten Blick nicht erkennbar. Bei Kristin vergingen 34 Jahre, bis die Diagnose klar war. Hajo war Anfang 40, als er begriff, warum er anders ist als andere. "Es wäre vieles einfacher gewesen und besser zu verstehen, wenn ich früher gewusst hätte, was mit mir los ist", sagt Hajo Seng. Dann hätten die Lehrer ihn unterstützen, die Mitschüler ihn verstehen und seine Eltern ihn fördern können. Dann wäre er nicht von Selbstzweifeln zernagt worden, immer allein, ohne Freunde. Dann wäre das ich-bezogene Handeln von Kristin Behrmann nicht verurteilt worden, ihre ständigen Wiederholungen wären anderen nicht auf die Nerven gegangen. Ihr mangelndes Verständnis für die Gefühle und Bedürfnisse anderer Menschen hätten nicht so häufig zu Schwierigkeiten geführt. "Ich habe häufig mit meinen Bemerkungen andere verletzt, ohne Böses zu wollen", sagt Kristin Behrmann. Sich in die Gefühlswelt anderer zu versetzen fällt ihr schwer. Einmal sagte ein Freund zu ihr: "Ich liebe dich." Sie antwortete: "Danke."

Menschen mit Asperger-Syndrom sind anders. Sie brauchen Annahmestatt Ablehnung. Behutsame Förderung statt Druck. Sie brauchen klare, bleibende Strukturen, Rückzugsmöglichkeiten und Lob. Und ganz voran: Verständnis. Deshalb haben die beiden ein Buch geschrieben. Auf 40 Seiten erzählen sie im Wechsel von ihrer Kindheit mit Autismus. "Tomaten gehören nicht auf die Augen" ist ein Bilderbuch mit lustigen und nachdenklichen Reimen. Die Illustrationen haben die Autoren selbst gestaltet. "Die Gedichte und Zeichnungen sollen dabei helfen, leichtere Formen des Autismus früher zu erkennen und entsprechend auf die Kinder einzugehen", sagt Kristin Behrmann. Sie hat das Buch geschrieben, weil sie sich genau das gewünscht hätte: früher erkannt zu werden. Weil sie sich gewünscht hätte, dass die Aufgaben in der Schule "autistengerecht" formuliert worden wären. Weil sie sich gewünscht hätte, dass ihre Angst vor Nähe akzeptiert worden wäre. Und die anderen es akzeptiert hätten, dass sie jeder Klassenreise aus dem Weg gegangen ist.

Auch Hajo Seng war immer allein. "Ich lebte offensichtlich in meiner eigenen Welt." Er beschäftigte sich als Kind am liebsten mit wissenschaftlichen Themen, studierte später Mathematik. Auch Kristin Behrmann hat ihren Weg gemacht. Sie ist Grafikerin und Malerin. Beiden sieht man nicht an, dass sie einen Schwerbehindertenausweis bei sich tragen. Sie haben gelernt, sich in der Gesellschaft zurechtzufinden. "Lange Zeit dachte ich, ich wäre ein außerirdisches Wesen, das durch einen bizarren Irrtum hier auf der Erde gestrandet war", sagt Hajo Seng. "Mir hätte es sehr geholfen, wenn ich gewusst hätte, was es bedeutet, ein Asperger-Autist zu sein. Nämlich, dass ich anders bin. Und dass gerade diese Andersartigkeit eine Stärke ist."