Kinder mit einer Autismus-Spektrum-Störung leben in ihrer eigenen Welt. Deshalb müssen sie aus der echten aber nicht ausgegrenzt werden.

Er ist anders als die übrigen Kinder in der Klasse. Wenn Felix, Artur und Cornelis über ihren Klassenkameraden reden, sagen sie, dass er irgendwie anders ist. Weil er sich beim gemeinsamen Spiel an keine Regeln hält oder mittendrin einfach aufhört. Weil er während des Unterrichts plötzlich aufspringt und am Computer spielt, während die anderen noch lernen. Oder einfach, weil Ersohn, 10, in einer anderen Welt lebt.

Ersohn: Schon der Name ist irgendwie anders, zumindest für seine Klassenkameraden. Ersohns Eltern kommen aus Indonesien, sein Name ist eine Abkürzung von "Erster Sohn" oder "Er ist mein Sohn". Wenn seine Mutter Lorenth Styne, 33, von Ersohn spricht, sagt sie selbst oft, dass er ein bisschen anders ist. Das ist für sie keine Abwertung, sondern eine Tatsache. Weil Ersohn als Kind fast kein einziges Wort gesprochen hat. Weil er bei Arztbesuchen wie hypnotisiert den Ventilator anstarrte, aber sonst nichts wahrnahm. Weil er sich mehr für Technik als für Menschen interessiert, keine sozialen Beziehungen eingehen kann. Und weil er frühkindlichen Autismus hat.

+++ Das Ziel: Hilfe im Alltag +++

Irgendwie anders, das ist eine Beschreibung für Autismus-Spektrum-Störungen, wie es offiziell heißt. Es ist der Versuch, das schwer erklärbare Syndrom zu umschreiben, eine Entwicklungsstörung. So vielfältig, dass sie bei vielen Betroffenen erst nach Jahren diagnostiziert wird. Jahre, in denen die Kinder wegen ihrer gestörten Wahrnehmung auffallen, wegen Entwicklungsverzögerungen, wegen psychomotorischer Defizite oder Probleme in der sozialen Integration.

Wenn seine Klassenlehrerin Regina Rudloff über Ersohn spricht, sagt sie, dass doch alle Kinder irgendwie anders sind, dass kein Kind dem anderen gleicht, jedes Kind unterschiedliche Interessen und Fähigkeiten, Stärken und Schwächen hat. Und dass Ersohn deswegen nur so anders ist wie jedes andere Kind auch. Regina Rudloff, 46, ist Sonderpädagogin und weiß, wie sie mit Besonderheiten der Kinder umgehen muss. Wie sie deren spezielle Fähigkeiten nutzen kann, um jedes Kind individuell zu fördern, zu fordern.

Die Grundschule Grumbrechtstraße in Heimfeld ist auch irgendwie anders als andere Schulen und anders, als man es aus der eigenen Schulzeit kennt. Der Unterricht ist jahrgangsübergreifend und integrativ. Lernbehinderte und körperbehinderte Kinder lernen gemeinsam mit Kindern, die eine Empfehlung fürs Gymnasium haben. Andersartigkeit ist hier die Norm. Statt starrer Stundenpläne gibt es individuell für die Schüler zugeschnittene Arbeitspläne. Die Kinder entscheiden oftmals selbst, wann sie was machen wollen. Auch Ersohn. Er geht jetzt in die 5. Klasse und kennt die Abläufe, die Strukturen. Das ist wichtig für ihn. Feste Strukturen. Regeln. Routine.

Doch heute wird ein neues Thema eingeführt, mit einem Spiel. Während die Referendarin Susanne Niebuhr den Schülern die Spielregeln erklärt, läuft Ersohn ziellos im Klassenraum herum. Zuhören fällt ihm schwer, selbst kommunizieren noch mehr. Im morgendlichen Gesprächskreis kann er sich nicht konzentrieren, schaltet irgendwann ab und geht weg. So ist es auch jetzt.

+++ Er entdeckte eine Form des Autismus +++

Doch Marina Gorcunova, 47, lotst Ersohn sanft, aber bestimmt auf seinen Stuhl zurück. Die Erzieherin ist Ersohns Schulbegleiterin und unterstützt ihn seit der 1. Klasse im Schulalltag. Sie hilft ihm beim Aussuchen und Bearbeiten seiner Aufgabenzettel, beim Organisieren der Arbeitsabläufe und sorgt immer wieder dafür, dass Ersohn nicht abschweift, abschaltet und abdriftet in seine Welt. Irgendwie anders? Wer Ersohn beim Spielen erlebt, könnte ihn für einen ganz normalen Jungen halten. Er würfelt um die Wette, zieht sich immer wieder Mütze, Schal, Handschuhe an und versucht, mit Messer und Gabel eine eingewickelte Tafel Schokolade auszupacken. Ein Spiel, das viele von Kindergeburtstagen kennen, Ersohn aber noch nicht. Er war nie eingeladen, auf keiner Klassenreise dabei.

"Dabei würden wir uns gerne mit ihm verabreden", sagen Cornelis, Artur und Felix. Doch das sei schwer. Weil er so viele Termine hat, oft zur Therapie muss, Geige und Klavier spielt. Er ist nicht in der Lage, Verabredungen zu treffen, alles muss von seiner Mutter koordiniert werden. Und er nimmt die anderen oft kaum wahr. Ob sie Freunde sind? "Ich hab ihn das mal gefragt", sagt Artur. Ersohn hat nicht geantwortet.

Ein anderer Stadtteil, ein anderes Kind, andere Probleme, aber der gleiche Satz: Justus ist anders. Weil er eine andere Wahrnehmung hat und hypersensibel ist. Weil er überempfindlich auf laute Geräusche reagiert und der Krach in Klassenräumen oder Turnhallen eine Katastrophe für ihn ist. Weil er sich dann die Ohren zuhält und abschaltet. Und weil er das Asperger-Syndrom hat, das wie frühkindlicher Autismus unter dem Obergriff Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) läuft. Justus, 16, ist autistisch. Aber er ist kein Autist! Das ist seiner Mutter ganz wichtig. Autist werde oft als Schimpfwort gebraucht. Antje Horn-Engeln engagiert sich in der Elterninitiative Autismus Hamburg e.V. und setzt sich dafür ein, die Öffentlichkeit für Autismus-Spektrum-Störungen zu sensibilisieren.

Der Bedarf ist groß. Studien gehen davon aus, dass eins von 150 Kindern eine Störung aus dem autistischen Spektrum hat. "Da man den Kindern jedoch nichts ansieht, werden sie meist als 'komisch' abgestempelt", sagt Antje Horn-Engeln. Und dann fängt sie an, von ihrem Justus zu erzählen, der als Kind sehr früh sprechen konnte, aber alles immer wiederholt hat. Der keinen Körperkontakt mochte. Der immer wieder bei Ärzten war und als Kind mit einem Aufmerksamkeitsdefizit und einer "nervösen" Mutter abgestempelt wurde. Der in der Schule diskriminiert wurde, gedemütigt, geärgert, gemobbt. Und der irgendwann nicht mehr konnte und mit zwölf zusammengebrochen ist.

Ja, Justus ist irgendwie anders. Aber nicht nur, weil er das Asperger-Syndrom hat. Sondern weil es jahrelang nicht erkannt wurde. Wegen seiner Schulprobleme musste er irgendwann stationär aufgenommen werden, hatte Depressionen. Zur Schule gehen? Eineinhalb Jahre undenkbar - bis eine spezielle Asperger-Klasse gegründet wurde, die einzige dieser Art in Hamburg. Auf Initiative der Schule für Haus- und Krankenhausunterricht der Schulbehörde wurde diese Klasse 2010 am Johannes-Brahms-Gymnasium eingerichtet. Ein Vorzeigeprojekt. Oder?

+++ Gefangen in ihrer eigenen Welt +++

Die Initiatoren äußern sich verhalten. "Die Konstruktion ist alles andere als ideal. Es ist ein Kriseninterventionsprojekt für Betroffene, die schon sehr viele Schulwechsel, Ausgrenzung und Scheitern erlebt haben", sagt Mona Meister, 55, Leiterin der Schule für Haus- und Krankenhausunterricht. Ihr Ziel ist es, Kinder mit Autismus-Spektrum-Störungen nicht in spezielle Klassen auszugliedern, sondern in "normale" Schulen zu integrieren. "Unsere Idealvorstellung ist es, an möglichst vielen Schulen Konzepte und Strukturen zu schaffen, die für autistische Kinder geeignet sind", sagt Birger Siebert, 36, Leiter der Beratungsstelle Autismus, die 2010 eingerichtet wurde. Seitdem wurden mehr als 350 ASS-Schüler beraten. Experten schätzen, dass es in Hamburg bis zu 700 Betroffene gibt.

Ersohn ist einer von ihnen und weiß nichts davon. Weil es in seiner Welt keine Rolle spielt. Ersohn spricht wenig, mit Fremden gar nicht. Als die Schüler nach dem Schokoladenspiel sagen sollen, was ihnen zu Schokolade einfällt, schweigt Ersohn. Erst kurz vor Ende der Stunde meldet er sich einmal und sagt "Kakao". Dann steht er ohne Erklärung auf und setzt sich an den Computer und taucht in seine eigene Welt ab. Die anderen Kinder beachten das kaum. Sie wissen, dass Ersohn sich nicht lange konzentrieren kann und zwischendurch an den Computer darf, eben weil er ein bisschen anders ist.

Das Anders bedeutet bei Ersohn aber auch: sehr intelligent sein. Im Projektunterricht konstruiert er neue Fahrzeuge und baut sie, in der Mathestunde löst er schwierige Aufgaben im Kopf. Wie er auf das Ergebnis kommt? Das kann er nicht erklären. Er kennt die Wörter, kann sie aber nicht zu Sätzen zusammenfügen. Wenn er an den Computer will oder auf die Toilette muss, verwendet er nur Satzbruchstücke oder steht wortlos auf und verschwindet. Seine Sprache ist anders, oft verstehen selbst seine Eltern ihn nicht.

+++ Liegt die Ursache für Autismus auch in der Gebärmutter? +++

Deswegen hat Ersohn einmal in der Woche Sprachtherapie, eine Maßnahme von vielen, die Ersohn helfen sollen, trotz seiner Andersartigkeit ein einigermaßen normales Leben zu führen. Auf einer normalen Schule, mit normalen Hobbys. Aus diesem Grund geht Ersohn nicht nur zur Therapie, sondern auch zum Musikunterricht und zum Sport - Inlineskating. Die Bewegung macht ihm Spaß, das Spiel in der Gruppe nicht so sehr. Er versteht nicht, was Teamarbeit ist, worauf es beim Mannschaftssport ankommt, warum er nur auf ein Tor schießen darf und nicht auf beide. Trotzdem macht er weiter. Weil der Kontakt mit Gleichaltrigen wichtig ist.

Manchmal liest er Petzibücher, die für kleine Kinder sind, oder er verständigt sich durch Gesten, nicht durch Sprache. Doch es gibt einen anderen Ersohn. Einen, der gerne Pizza isst, Musik hört und abends am Computer daddelt. Der ist nicht anders, sondern wie alle Kinder. Zumindest ein bisschen.