Mithilfe der Petö-Therapie lernen hirnverletzte Kinder wie Leon laufen. Zu den Hamburger Kursen reisen Patienten aus ganz Norddeutschland an.

Hamburg. Er steht. Zwar noch etwas wackelig. Die kleinen Beinchen sind in zwei bunte Plastikschienen geschnallt. In der Hand hält er ein Tau. Es hängt schlaff zu Boden. Am Ende baumelt ein Stoffesel. Es ist nur ein Seil. Doch für Leon ist diese Schnur wie eine Hand, die ihm Sicherheit gibt bei seinen ersten freien Schritten. Leon ist drei Jahre alt. Ein kleiner Kerl mit braunen Löckchen und großen Augen. Einer, der immer fröhlich ist, viel lacht und immer wieder versucht aufzustehen, auch wenn sein Körper streikt, die Beine nicht das tun, was doch eigentlich selbstverständlich sein sollte. Stehen, gehen, laufen.

Was gesunde Kinder aus sich heraus lernen, muss Leon mit therapeutischer Hilfe einüben. Jede Bewegung muss er begreifen und mit dem Kopf steuern. Dass er heute schon kleine Strecken ohne Gehhilfe zurücklegen kann, grenzt aus Sicht der Ärzte an ein kleines Wunder.

Bernhard Jürs hingegen findet es nur naheliegend, dass Kinder mit Hirnverletzungen, die im Rollstuhl sitzen, jeden Schritt lernen können. Jürs ist Vorsitzender des Vereins "Schritt für Schritt, Hilfe für das hirnverletzte Kind". Der Verein bietet Konduktive Förderung nach Petö in Hamburg an. Die mehrwöchigen Kurse in den Räumen der Freien evangelischen Gemeinde in der Michaelispassage sind einmalig im norddeutschen Raum. Die Kinder und Jugendlichen kommen aus Bremen, Hannover und Rostock, um hier für ein paar Wochen geballte Therapie zu erleben. Bei Petö werden die Kinder in ihrer motorischen, sprachlichen und geistigen Entwicklung gefördert. Ziel dabei ist das Erreichen der individuell größten Selbstständigkeit. Der Ansatz funktioniert, das zeigen die Fortschritte der Kinder. Dennoch wird Petö nur in Ausnahmefällen von Sozialhilfeträgern bezahlt. Eine Therapie ist teuer. Und wer mitmachen möchte, ist fast immer auf Unterstützung angewiesen.

So wie Katrin Eckhoff und ihr Sohn Leon. Als sie von Petö erfuhr, bat sie den Abendblatt-Verein "Kinder helfen Kindern" um Hilfe. Inzwischen hat sie mit ihrem Sohn fünf Kurse absolviert. Aus dem Kind, das sich nicht aufrichten konnte, ist ein kleiner Junge geworden, der seine Krücken in die Ecke schmeißt. Und mit eiserner Disziplin versucht, ohne Hilfe zu gehen. "Er ist auf einem guten Weg", versichert Petö-Therapeutin Angela Singovszki. Sie kommt aus Ungarn, hat ein vierjähriges Fachhochschulstudium absolviert, vereint Kompetenzen im Bereich Krankengymnastik, Logo- und Ergotherapie und hat das Diplom als ungarische Grundschullehrerin. Für die Kinder ist das ein großer Vorteil. Sie müssen sich nicht immer auf neue Therapeuten einstellen. Leon liebt die Therapiewochen. Um neun Uhr geht es los. Sieben Kinder haben sich an diesem Dienstagmorgen in Raum vier des Gemeindehauses versammelt. Sie sind alle zwischen zwei und vier Jahren. Nebenan sitzen die Größeren. Insgesamt 45 Kinder sind diesmal dabei. Auf drei Kinder kommt eine Therapeutin. Wenn Angela Singovszki mit den Kindern arbeitet, beginnt sie zu singen. Melodie und Rhythmus lockern die Sehnen, entspannen die kleinen Körper. Und: Die Kinder können sich später besser daran erinnern, was ihnen die Therapeutin erklärt hat. Denn darum geht es: Bewegungsabläufe zu lernen. "Petö geht davon aus, dass es sich bei Zerebralschädigungen um eine Lernstörung handelt, die neben der Motorik die gesamte Persönlichkeitsentwicklung beeinträchtigt", sagt Jürs. Nicht die Fehler sollten korrigiert werden, sondern das Fehlende erlernt. In Leons Gruppe gibt es Kinder wie die Zwillinge Albert und Antoni. Sie sind zweieinhalb Jahre alt und in der 26. Schwangerschaftswoche auf die Welt gekommen. Es gab Komplikationen, Hirnblutungen. Von Anfang an war klar, dass sich die Jungs nur langsam entwickeln werden. Dreimal pro Woche fährt die Mutter mit den beiden zur Physiotherapie, sie gehen zur Frühtherapie und jetzt versuchen sie Petö. Schon nach wenigen Tagen macht Antoni die ersten Gehversuche mit Vierpunktstützen. Irgendwann wird er sich nur noch an einem Tau festhalten.

Auch Leon hat so angefangen, als er im vergangenen Sommer zum ersten Mal zur Petö-Therapie kam. Erst wenige Monate zuvor hatten die Ärzte bei ihm eine spastische beinbetonte Zerebralparese festgestellt. Die Mutter hatte ihn untersuchen lassen, weil ihr auffiel, dass Leon nicht lernen wollte, sich hinzustellen. Woher die Hirnverletzung kommt, können auch die Ärzte nicht sagen. Leon wurde mit der Saugglocke geholt. "Vielleicht ist dabei etwas schief gegangen", vermutet Katrin Eckhoff. Während die gleichaltrigen Kinder in der Nachbarschaft durch den Garten tobten, konnte Leon nur zuschauen. Inzwischen versucht er es ihnen gleichzutun. Bernhard Jürs ist überzeugt, dass diese Entwicklung an Petö liegt.

Wie gut diese Therapie funktioniert, hat Jürs bei seiner eigenen Tochter erlebt. Als Lea ein Jahr alt war, sagten die Ärzte: "Dieses Kind wird nie laufen lernen." Jürs konnte nicht glauben, dass so früh eine Prognose für ein ganzes Leben gestellt werden kann. Er hörte von Petö, schloss sich dem Verein an und holte die Therapieform, die in Bayern längst staatlich anerkannt ist und gefördert wird, nach Hamburg.

Lea ist heute 20. Sie hat ihr Fachabitur gemacht. Sie geht ihren Weg. Auf eigenen Beinen.

Seit 2006 hat der Abendblatt-Verein "Kinder helfen Kindern" 38 Kindern eine Petö-Therapie mitfinanziert. Das war nur durch Leser-Spenden möglich. Vielen Dank auch an dieser Stelle noch einmal im Namen aller Kleinen, die so laufen gelernt haben.