Inklusion - Hamburg hat eine Vorreiterrolle für das gemeinsame Aufwachsen von Kindern mit und ohne Behinderung.

Hamburg. Für die Eltern ist jedes Kind etwas ganz Besonderes. Ganz egal, ob es ein Junge oder ein Mädchen ist, ob es diese oder jene Begabung mitbringt, ob es mit einer Behinderung leben muss oder nicht. Anders jedoch in Kindergarten und Schule. Hier ist es keineswegs selbstverständlich, jedes Kind mit seinen besonderen Eigenschaften gleichermaßen willkommen zu heißen. Dies gilt besonders für Kinder mit einer seelischen, körperlichen oder geistigen Behinderung.

Während in Kindertageseinrichtungen bundesweit immerhin noch rund 60 Prozent der Kinder mit Beeinträchtigungen gemeinsam mit anderen spielen und lernen, sind es in der Grundschule lediglich 34 Prozent. Beim Übergang in die weiterführende Schule reduziert sich dieser Anteil dann sogar auf etwa 15 Prozent. Damit gehört Deutschland im internationalen Vergleich zu den Ländern mit einem besonders selektiven Bildungssystem.

In den letzten etwa hundert Jahren hat sich hierzulande der Umgang mit Behinderung mehrfach gravierend verändert. Am Anfang stand eine sich immer mehr zuspitzende Ausgrenzung behinderter Menschen. Mit der Machtergreifung der Nazis wurde diese menschenverachtende Ideologie offizielle Politik: Zahlreiche Menschen mit Behinderung wurden zwangssterilisiert, rund 100 000 ermordet, darunter etwa 5000 Kinder.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurden Menschen mit Behinderungen in Spezialeinrichtungen abgedrängt. Das führte zum Aufbau eines Netzes von, im Vergleich zu Regeleinrichtungen, zumeist gut ausgestatteten Sonderschulen, Wohnheimen und beschützten Werkstätten für Behinderte, begleitet von der Etablierung spezieller Berufsgänge wie Heilerzieher und Sonderpädagogen. Ende der 70er-Jahre sollten Menschen unter dem Stichwort Normalisierung so weit wie möglich in Regeleinrichtungen integriert werden.

Mit der Verabschiedung der Uno-Konvention 2006 durch die Vereinten Nationen wurde die bisher letzte Etappe der Veränderungen für Menschen mit Behinderungen eingeläutet. Ziel der Behindertenrechtskonvention ist Teilhabegerechtigkeit. Sämtliche Angebote der Gesellschaft sollen ohne Diskriminierung gleichermaßen Menschen mit und ohne Behinderung offenstehen. Das bedeutet den Aufbau eines inklusiven Bildungssystems in einer inklusiven Gesellschaft.

Ihr Ziel: die gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen, ungeachtet ihres Geschlechts, ihrer Hautfarbe, ihrer Leistungsfähigkeit, ihrer ethnischen oder sozialen Herkunft oder ihrer Behinderung. Während Integration davon ausgeht, dass manche Menschen zunächst von bestimmten Angeboten ausgeschlossen sind und daher integriert werden müssen, will Inklusion von vornherein das Zusammenleben so organisieren, dass niemand ausgeschlossen wird. Gelungene Inklusion setzt voraus, dass Institutionen (Kindergarten, Schule) so geformt sind, dass sie für alle Kinder passen.

Inklusives Denken führt zu einem neuen Verständnis von Behinderung. Aus dem bisher vorherrschenden medizinischen wird auf diese Weise ein soziales Modell der Behinderung.

Kinder gehen zumeist ganz selbstverständlich mit Verschiedenheit um. Der Umgang mit unterschiedlichen Stärken und Schwächen stärkt ihre emotionalen und sozialen Fähigkeiten, trägt zur Persönlichkeitsbildung bei.

Allerdings existieren zahlreiche institutionelle Barrieren - baulicherseits und personell. Die Einweisung in Förderschulen sollte Schritt für Schritt reduziert werden. So viel Gemeinsamkeit des Lernens wie möglich und nur so wenig geteiltes Lernen wie nötig. Die Verantwortung für einen solchen Umbau des Bildungssystems liegt vor allem bei den allgemeinen Schulen.

Die Eltern eines behinderten Kindes sollten ein Wahlrecht bezüglich der Schulart und des Lernortes erhalten. Um Kindern Lernumwege, schulisches Versagen und psychische Belastungen zu ersparen, sollten die Eltern bei ihrer Wahl individuell fachlich beraten werden. Auch in den Sozialgesetzbüchern sind Änderungen notwendig.

Das Land Hamburg nimmt in puncto Inklusion eine Vorreiterrolle in Deutschland ein: in zahlreichen Kindertageseinrichtungen, an Grundschulen, seit 2001 darüber hinaus auch in sogenannten Integrativen Regelklassen, die seit 1987 auf den Sekundarschulbereich ausgedehnt wurden.

Als bisher einziges Bundesland hat Hamburg 2010 einen individuellen Rechtsanspruch auf gemeinsames Lernen gesetzlich eingeführt.

Bis zu einer inklusiven Bildung und Erziehung für alle Kinder ist es jedoch auch in Hamburg noch ein langer Weg. Die Botschaft, die von einem inklusiven Bildungssystem ausgeht: Das Kind steht im Mittelpunkt, nicht die Behinderung.

Von dieser Haltung profitieren alle. Zuallererst die Kinder, aber auch die Eltern. Die Einzigartigkeit ihres Kindes wird wertgeschätzt, Aussonderung und Diskriminierung haben keinen Platz. Nicht zuletzt zieht die gesamte Gesellschaft daraus Nutzen. Vielfalt wird als Stärke erlebt, Gemeinsinn gefördert.

Jahrestagung der Deutschen Liga : Unter dem Titel "Jedes Kind ist anders, alle Kinder sind gleich. Inklusion ja - aber wie?" veranstaltet die Deutsche Liga für das Kind in Familie und Gesellschaft am 21./22. Oktober in Hamburg (Haus der Patriotischen Gesellschaft von 1765, Trostbrücke 6) ihre öffentliche Jahrestagung. Schirmherr ist der Erste Bürgermeister Olaf Scholz. Infos, Anm. und Programm bei: Deutsche Liga, Charlottenstr. 65, 10117 Berlin, Tel. 030/28 59 99 70, Fax 030/28 59 99 71, post@liga-kind.de , www.liga-kind.de