Ehrenamtliche Helfer des ambulanten Kinderhospizdienstes Familienhafen entlasten Eltern mit sterbenskranken Kindern

Finn rast durchs Haus, seine Mutter hinterher. Der Junge visiert ein auf dem Couchtisch abgestelltes Glas an, doch seine Mutter ist schneller, rettet das Behältnis samt Inhalt, bevor es ihr Sohn vom Tisch fegt. Jutta B., 38, Mutter von Finn, 10, und Thore, 7, kann ihren Ältesten keine Sekunde aus den Augen lassen. Was er in die Hände bekommt, schmeißt er durch die Gegend. Flurgarderobe und Schlüsselbrett hängen so hoch, dass Finn nicht herankommt, die Haustür ist immer abgeschlossen, damit er nicht auf die Straße rennt. Seinem Bruder hat er schon Legosteine an den Kopf geworfen, die Tür seines Kinderzimmers eingetreten.

Finn macht das nicht aus Böswilligkeit oder weil er schlecht erzogen ist, der Schüler ist schwer krank. Er leidet unter der Stoffwechselerkrankung Mukopolysaccharidose (MPS) Typ III. Bei dieser erblich bedingten Krankheit fehlt dem Körper ein bestimmtes Enzym, das für den Abbau einiger langkettiger Zuckermoleküle (Mukopolysaccharide) verantwortlich ist. Die nicht abgebauten Moleküle lagern sich in den Körperzellen ab, sodass diese nicht mehr richtig arbeiten und ihre Funktionen verlieren. Dadurch verstärken sich die Krankheitssymptome. So entwickeln sich die Betroffenen als Babys noch scheinbar normal. Doch ab etwa drei bis vier Jahren tritt die Störung deutlich auf, die Kinder entwickeln sich zurück. Sie verlieren bereits erlernte Fähigkeiten wie die Sprache, verhalten sich extrem unruhig. Im weiteren Verlauf gehen auch die körperlichen Fähigkeiten zurück, sie können die Muskeln nur schlecht steuern, verschlucken sich oft. Die Lebenserwartung ist unterschiedlich, manche Kinder erreichen das frühe Erwachsenenalter, andere sterben vor der Pubertät.

Erst nach einer langen Odyssee durch Arztpraxen und Kliniken wurde MPS bei Finn diagnostiziert, da war er fünf Jahre alt. Zu erfahren, dass es kein Mittel der Heilung gibt, traf die Familie schwer, "aber für Trauer war keine Zeit, es muss ja weitergehen", sagt Jutta B. Für sie ist das Kümmern um Finn, der oft auch sehr liebebedürftig ist, ein Vollzeitjob. Der beginnt früh morgens, wenn Finn zur Förderschule für Behinderte startet, und hört abends noch lange nicht auf. Denn Finn leidet an den für MPS III typischen Schlafproblemen: Er liegt stundenlang wach und braucht die volle Aufmerksamkeit seiner Mutter.

Ihr jüngster Sohn, der aufgeweckte, fußballbegeisterte Thore, ist von der Krankheit nicht betroffen. Trotzdem machten sich Jutta B. und ihr Mann Sorgen: "Er kommt einfach zu kurz, muss immer zurückstecken", sagt Jutta B. Seit Brigitte Wempe einmal pro Woche in die Familie kommt, haben die Eltern ein besseres Gefühl. Denn die 69-Jährige kümmert sich nur um Thore.

Sie ist ehrenamtliche Mitarbeiterin des Familienhafens, eines ambulanten Kinderhospizdienstes in Hamburg. Der Verein begleitet Familien, in denen Kinder von einer lebensverkürzenden Krankheit wie MPS oder Krebs betroffen sind. Die Freiwilligen entlasten die Eltern in dieser schweren Situation, betreuen das erkrankte Kind oder das Geschwisterkind und stehen den Familien auch nach dem Tod eines Kindes bei.

Den Besuch von Brigitte kann Thore kaum erwarten. "Sie begleitet mich zum Inlineskaten, wir gehen Eis essen oder spielen zusammen Stratego", erzählt der Zweitklässler begeistert. Auch beim Fußballspielen im Garten macht sie mit. "Er darf bestimmen, was wir machen, ich bin nur für ihn da", sagt die patente Rentnerin. Sie ist fast wie eine Oma für ihn und leistet doch mehr.

"Wenn ich bei Thore bin, sind meine Ohren immer ganz weit offen", sagt Brigitte Wempe. Mit viel Feingefühl nimmt sie seine Regungen auf, tröstet ihn, wenn er traurig ist. Seine Empfindungen darf und soll der für sein Alter sehr umsichtige und sozial engagierte Junge bei ihr ausdrücken. Brigitte Wempe weiß solchen Emotionen zu begegnen. Die ehemalige Bankkauffrau hat wie alle ehrenamtlichen Helfer des ambulanten Kinderhospizdienstes an einer mehrmonatigen Schulung teilgenommen, die sie auf den Einsatz in Familien vorbereitet. "Oft erleben die Helfer vor Ort unmittelbar Krisensituationen mit, auf die sie reagieren müssen", erklärt Marita Hoyer, Vorsitzende des Familienhafens und Koordinatorin der Einsätze. Deswegen geht es in den von Fachdozenten geführten Wochenendeinheiten nicht nur um Krankheiten, sondern auch um die Auseinandersetzung mit Tod, Trauer und Sterben.

"Ich habe es schon erlebt, dass ein todkrankes Kind mich gefragt hat, wie lange es noch lebt, auf solche Gespräche ist man durch die Schulung gut vorbereitet", sagt Berit Hahn, 47, die derzeit den kleinen Bruder eines krebskranken Mädchens betreut. Trotz des schweren Schicksals der Familie enthält die Arbeit für die Verwaltungsangestellte viele glückliche Momente. "Das schönste ist, wenn der kleine Junge, um den ich mich kümmere, lacht und glücklich ist", so die Mutter zweier erwachsener Kinder, die mit ihrem Ehrenamt anderen Kindern etwas Zeit schenken wollte.

Auch Brigitte Wempe sieht ihren Einsatz nicht als Belastung, sondern als Bereicherung an. "Ich bin gerne für Thore und seine Familie da", sagt die Bergedorferin. Und die Mutter von Finn und Thore, Jutta B., fügt hinzu: "Für uns ist es eine große Erleichterung, dass Brigitte zu uns kommt." Ihrem Gesicht ist anzusehen, wie sehr sie sich über dieses Geschenk freut.