Die Sexualität von Menschen mit Behinderungen ist immer noch ein großes Tabuthema

Das erste Mal äußerte Sven sein Bedürfnis nach Sexualität, nachdem er von einer Ferienfreizeit zurückgekehrt war. Dort hatte der 19-Jährige eine junge Frau kennengelernt und sich Hals über Kopf in sie verliebt. Leider hielt diese Freundschaft nicht. "Wir haben versucht, den Kontakt aufrechtzuerhalten. Auch weil unser Sohn nicht lockerließ", erinnert sich seine Mutter.

Ein Junge verliebt sich in ein Mädchen. Eigentlich kein Problem, wäre da nicht die Behinderung von Sven, die es ihm scheinbar unmöglich macht, eine Freundin zu finden oder gar von Frau und Kind zu träumen. "Selbst in einer Partnerbörse für Menschen mit Behinderung wurde ihm keine Hoffnung gemacht, weil er nicht sprechen kann", erzählt seine Mutter. "Wir sehen, wie Sven leidet, wir würden ihm so gern helfen. Aber wie?"

Eine schwere Frage, und das, obwohl Liebe und Sexualität im Leben eines jeden Menschen eine Rolle spielen sollten. Doch Sexualität und Behinderung passen für viele Menschen nur schwer zusammen. Eine Einstellung, über die Dr. Michael Wunder, Leiter des Beratungszentrums der Evangelischen Stiftung Alsterdorf, nur den Kopf schütteln kann: "Der Mensch ist ein sexuelles Wesen, und diese Bedürfnisse jemandem abzusprechen ist Diskriminierung."

Gerade weil die Unterschiede in den Bedürfnissen und Vorstellungen bei behinderten und nicht behinderten Menschen nicht weit auseinanderliegen. "Die Gespräche rund um die Liebe sind doch überall die gleichen", erzählt Julia Klotzke. "Es geht um Partnersuche, Sehnsüchte, Verliebtsein oder die Verhütung." Die junge Frau mit dem kurzen blonden Haar leitet seit Anfang dieses Jahres das Haus Hinterm Graben der Alsterdorf Assistenz Ost. Insgesamt 33 Menschen leben dort mit unterschiedlichsten geistigen Behinderungen und Assistenzbedarf. Entsprechend verschieden sind auch die sexuellen und emotionalen Bedürfnisse. "Manche unserer Klienten gehen selbstständig auf Partnersuche oder führen intakte Beziehungen. Anderen fällt es schwer, ihre Bedürfnisse zu zeigen", erklärt Klotzke.

Für alle Klienten gilt trotzdem als wichtiges Ziel das Ausleben einer guten Sexualität und die Aufklärung über den eigenen Körper. Manchmal reicht es aus, Privatsphäre und Schutzraum für die Intimität mit einem Partner oder die Selbstbefriedigung zu schaffen. "Wir gehen ohne Scheuklappen an das Thema heran und stellen uns auf die individuellen Bedürfnisse ein", erklärt Dr. Wunder. "Nur sexuelle Handlungen, und sei es nur die Hilfestellung beim Geschlechtsverkehr, sind eine Grenze, die nicht überschritten werden darf."

Manche Klienten suchen gezielt im Internet nach einem Partner oder besuchen Singletreffs für Menschen mit Behinderung. "Andererseits haben wir auch Klienten mit einem hohen Bedürfnis an genitaler Sexualität. In einem solchen Fall ist die Begleitung zu einer Prostituierten auch ein möglicher Weg", so Wunder weiter. "Die sexuelle Dienstleistung wird aber immer von den Menschen mit Behinderung selbst bestimmt und auch von dem eigenen Geld bezahlt."

Auch in Hamburg gibt es Bordelle, in denen Menschen mit Behinderungen willkommene Gäste sind. "In dem Milieu gibt es viele Frauen, die sehr sensibel mit den Menschen mit Behinderung umgehen", weiß auch Nina de Vries. Die 51-Jährige ist eine Pionierin der Sexualbegleitung in Deutschland. Neben ihrer Arbeit als Sexualassistentin gibt sie Workshops zu dem Thema. Ihre eigene erotische Begegnung mit den Menschen mit Behinderung verfolgt sie allerdings mit einem anderen Ansatz.

"Ich biete weder Küssen noch Geschlechtsverkehr an, das würde meine persönlichen Grenzen sprengen. Stattdessen geht es bei mir eher um ein gemeinsames Nacktsein mit einer erotischen Massage oder Hilfestellung beim Erlernen der Masturbation. Was genau passiert, entscheiden die Klienten selbst." Auch wenn viele Menschen, die zu Nina de Vries kommen, schwer mehrfach behindert sind, finden sie Wege, ihre Bedürfnisse auszudrücken. "Ich spreche hauptsächlich Menschen an, die keine Beziehung haben können und die in den herkömmlichen sexuellen Dienstleistungen nicht gut aufgehoben wären", erklärt de Vries.

Doch es gibt Kritiker, denen die Sexualbegleitung zu weit geht. Das stößt bei allen Gesprächspartnern auf Unverständnis: "Für alle Bereiche einer Behinderung gibt es Hilfestellungen. Nur die Sexualität und sogar die Fähigkeit, emotionale Bindungen einzugehen, spricht man den Menschen mit Behinderung ab. Das ist doch absurd." Eine Aussage, die auch Julia Klotzke bestätigt: "Aber man kann sagen, dass sich das Thema zunehmend enttabuisiert."