In den Sprachen lagen sie schon immer vorn, jetzt holen sie auch in Mathematik und den Naturwissenschaften auf.

Jule ist gut in Fußball, Basketball und Tischtennis, spielt Trompete und Gitarre - und ist gut in Mathematik. In den klassischen Jungendomänen hat sie also die Nase vorne. Damit entspricht sie genau dem Prototyp, den eine neue, bisher unveröffentlichte Schulstudie als Gewinner des Schulsystems ansieht: Während die Mädchen die Jungs in ihren Klassen in Fächern wie Deutsch und Englisch schon vor langer Zeit abgehängt haben, holen sie jetzt auch in Mathe und Naturwissenschaften auf - und liegen in den Fächern, in denen sonst traditionell die Jungen stark sind, mit ihnen praktisch gleich.

In ihrer gestrigen Ausgabe hatte die "Welt" vorab über die Studie unter der Abkürzung KESS 8 berichtet, die in der kommenden Woche im Schulausschuss vorgestellt werden soll. Dahinter verbirgt sich eine Langzeituntersuchung im Auftrag der Schulbehörde zu den "Kompetenzen und Einstellungen von Schülerinnen und Schüler" (KESS). Nach den Jahrgängen 4 und 7 wurden 2007 knapp 14 000 Schüler des achten Jahrgangs getestet. Das Ergebnis: Alle Schüler haben Fortschritte gemacht. Allerdings sind die der Mädchen größer. Beispiel Lesekompetenz: Dort hat sich nach den Ergebnissen der Forscher rund um den Dortmunder Bildungsexperten Wilfried Bos der Rückstand der Jungen von 17 Punkten am Ende der vierten Klasse auf 33 Punkte nach der achten Klasse nahezu verdoppelt. Auch in der Rechtschreibung konnten sie die Differenz nicht ausgleichen. Selbst in den Naturwissenschaften lassen die Jungen nach. Während die Mädchen zwischen vierter und achter Klasse 121 Punkte wettmachten, schafften sie nur einen Zuwachs von 107 Punkten. Gravierend sind die Probleme bei Jungen mit Migrationshintergrund und sozial schwachen Elternhäusern, heißt es laut "Welt" in der Studie.

"Das Thema Jungs wurde lange nicht ernst genommen", sagt Ayhan Tasdemir, Sozialpädagoge und "Jungen-Beauftragter" an der Rudolf-Roß-Gesamtschule. "Jungen-Pädagogik muss endlich ins kollektive Bewusstsein rücken." Gerade ihre sozial-emotionale Betreuung käme in den Schulen zu kurz. "Ihr Kopf ist oft mit anderen Dingen voll, da ist kein Platz mehr, um Informationen aufzunehmen." Doch sei es falsch, in diesem Fall mit Strenge zu reagieren. "Das blockiert die Lernzugänge", sagt Tasdemir. "Jungen muss man auf der Gefühlsebene ansprechen."

Dass es den Jungen - wie in der KESS-Studie beschrieben - immer schwerer fällt, mit den Mädchen mitzuziehen, begründet der Sozialpädagoge mit ihren Orientierungsschwierigkeiten. Jungs fehle es an männlichen Vorbildern - viele hätten zu Hause und in der Schule überwiegend mit Frauen zu tun. Gerade in Familien aus benachteiligten Stadtteilen hätten Jungen oft keinen Ansprechpartner für ihre Sorgen. "Gefühle zu zeigen ist für viele eine Katastrophe", so der Experte. "Weil es als Unsicherheit ausgelegt werden kann, fragen sie im Unterricht lieber nicht nach, sondern schalten ab."

An der Rudolf-Roß-Gesamtschule bestätigten sich die Ergebnisse der KESS-Studie indes nicht. Von 100 Schülern der achten Klassen besuchen 17 den leistungsstärkeren Mathe-Kursus. "Unter den 17 Schülern sind nur zwei Mädchen", so Schulleiter Jan Baier. Eine von ihnen ist Jule.

Ihr Schulkamerad Nico Gebert ist in Mathe in der zweiten Leistungsstufe. Es ist sein schwächstes Fach, "das war schon in der Grundschule so". In seiner Ziel- und Leistungsvereinbarung für das zweite Halbjahr hat er festgeschrieben, dass er sich in Mathe bis zum Sommer um eine Note verbessern will. "Das hilft mir", sagt der Jugendliche. Seiner Ansicht nach haben es Mädchen in der Schule etwas leichter: "Sie sind ordentlicher, fleißiger, und die Lehrer mögen es, dass sie ruhiger sind."

Jule ist nicht nur im Mathe-Einser-Kursus, sondern auch - als Einzige aus ihrer Klasse - im leistungsstarken Deutschkurs. Für die 15-Jährige sind "Konkurrenzkämpfe" mit ihrem zwei Jahre älteren Bruder der Grund für ihre guten Leistungen. "Das hat mich gepuscht." Bei ihren Mitschülern hat Jule noch nicht beobachtet, dass die Mädchen die Jungen abhängen. "In manchen Fächern sind wir besser, in anderen die Jungs", sagt sie. Doch eins sei ihr aufgefallen: "Jungen, die viel Computer spielen, sind oft schlechter in der Schule."

Das bestätigt der Hannoveraner Kriminologe Christian Pfeiffer, der in zahlreichen Studien den Einfluss von Medienkonsum auf Schullaufbahn und Persönlichkeitsentwicklung von Jugendlichen untersucht hat. Demzufolge besitzen schon bei den Viertklässlern mehr als doppelt so viele Jungen (38 Prozent) wie Mädchen (15 Prozent) eine eigene Spielekonsole. "Je mehr Zeit sie mit dem Konsum dieser Medien verbringen und je brutaler die Inhalte sind, desto schlechter sind ihre Schulnoten", so Pfeiffer.

Klare Aussagen macht die KESS-Studie auch zur Schullaufbahnempfehlung in der vierten Klasse: Danach liegen die Grundschullehrer häufig falsch mit ihrer Prognose. Denn: 66 Prozent der Kinder ohne Gymnasialempfehlung besuchen am Ende von Klasse 8 weiter das Gymnasium. Bildungsforscher Bos folgert daraus, dass die Empfehlung für viele Kinder zu früh kommt.

Ties Rabe, schulpolitischer Sprecher der SPD, sagte dem Abendblatt: "Es ist gut, dass wir in Hamburg weiter ein Elternwahlrecht haben." Die KESS-8-Resultate seien zu erwarten gewesen. Schon seit Jahren liegt der Anteil der Mädchen an den Abiturienten deutlich höher. Rabe ärgert, dass die Studie lange unter Verschluss gehalten wurde. "Ich hoffe, dass es nicht darum ging, unliebsame Ergebnisse nachzubessern."