Der Psychologe Michael Thiel über den Babyfund vom CCH.

Hamburger Abendblatt:

Wie schätzen Sie die Frau ein, die ihr Baby ausgesetzt hat?

Michael Thiel:

Ich kann nur Vermutungen anstellen, aber bei solchen Fällen leben die Frauen meistens sehr isoliert, sind ungewollt schwanger geworden, psychisch labil und haben niemanden, dem sie sich anvertrauen können. Bereits während der Schwangerschaft erleben sie das Baby als Störfaktor. Sie nehmen es von vornherein nicht an. Oft vertuschen die Frauen die Schwangerschaft, sodass niemand aus dem Umfeld etwas mitbekommt.

Was ist in der Frau vorgegangen, als ihr Baby zur Welt gekommen ist?

Thiel:

Vermutlich hat sie das Kind allein und unter schweren Umständen geboren. Häufig steigt dann Panik in der Mutter auf. Sie hat nur noch einen Gedanken: "Das Baby muss weg. Sofort." Ich könnte mir vorstellen, dass bei dieser Mutter in dem Moment, in dem das Baby da war, ein Funken Tötungshemmung aufgekommen ist. Sie hat lieber den schleichenden Tod für das Kind gewählt. Wenn das Kind gestorben wäre, hätte es sich letztlich um eine Form von Mord gehandelt. Indem die Frau den Säugling an einem einsamen Ort abgelegt hat, hat sie den Tod des Kindes in Kauf genommen.

Warum hat sie das Kind nicht zur Babyklappe oder an einen öffentlichen Ort gebracht?

Thiel:

Die Angst der Frau, entdeckt zu werden, muss extrem groß gewesen sein. Ihre eigene Sicherheit stand für die Mutter im Vordergrund.

Hat die Frau das Ganze geplant?

Thiel:

Das vermute ich nicht. Plan A könnte gewesen sein, das Kind direkt nach der Geburt umzubringen. Doch dann hat sie sich für Plan B mit dem Koffer entschieden.