Zwei Männer haben Marcel F. wegen einer Nichtigkeit beinahe getötet. Anklage lautet auf versuchten Totschlag und gefährliche Körperverletzung.

Neustadt. Sein Verteidiger zupft ihm kurz vor Prozessbeginn am Ohr, tätschelt aufmunternd seinen Nacken. Eine Geste, die signalisiert: Kopf hoch, wird schon. Unter den leicht lockigen, dunklen Haaren verbirgt sich ein jungenhaftes Gesicht. Nervös sucht Phillip R. mit den Augen im Zuschauerraum nach vertrauten Gesichtern. Neben ihm sitzt sein Freund, der Mitangeklagte Salim El G., gerade mal 20 Jahre alt, so wie er selbst. Einer fehlt indes im Gerichtssaal: Marcel F., das Opfer, der Nebenkläger. "Er will diese Konfrontation erst einmal vermeiden", sagt sein Anwalt.

Die beiden jungen Männer stehen seit gestern vor dem Landgericht. Die Anklage lautet auf versuchten Totschlag und gefährliche Körperverletzung. Das klingt juristisch korrekt und geboten sachlich - die Paragrafen umfassen die Dynamik dieser Gewaltorgie jedoch bei Weitem nicht.

Am 13. Februar ist Marcel F. im Metrobus der Linie 2 unterwegs . Der 19-Jährige, der erst fünf Monate zuvor von Ostfriesland nach Hamburg gezogen ist, hat den Abend mit Freunden auf dem Kiez verbracht, ein paar Bier getrunken. Er will nach Hause, nach Lurup, wo er zur Untermiete wohnt. Hinter ihm sitzen zwei junge Männer, die auf ihren Handys laut Musik hören. Er denkt sich nichts dabei, als er sie kurz vor Erreichen der Haltestelle Schützenstraße bittet, die Musik etwas leiser zu drehen. Warum auch? Marcel F. fühlt sich in Hamburg sicher.

Als ihn der erste Schlag trifft, wird es schwarz um ihn herum. Zeugen beobachten, wie sich Phillip R. an einer Haltestange festklammert, das Bein voll durchzieht und gegen den Kopf von Marcel F. tritt. Überhaupt klingt die gestern verlesene Anklage wie der Choreografie eines Martial-Arts-Films - der fernöstlichen Variante des Actionfilms - entliehen. "Der Angeklagte R. trat auf die Beine seines Opfers und den Oberkörperbereich, während El G. gegen den Kopf trat", heißt es da. Marcel F. ist längst im Mittelgang zu Boden gegangen, als Phillip R. laut Anklage auf seinen Oberkörper steigt. Dann springt er über ihn hinweg, verfehlt beim Aufkommen mit den Füßen haarscharf den Kopf seines Opfers. Noch ein letztes Mal tritt er zu, wieder gegen den Kopf. Dann endlich reißt der Busfahrer die beiden fort, schiebt sie aus dem Bus.

Marcel F. wacht Stunden später im Krankenhaus Altona auf, aus dem künstlichen Koma, in das ihn die Ärzte versetzt hatten. Der 19-Jährige, der kurz vor dem Ende seiner Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann steht, hat ein Schädel-Hirn-Trauma, Quetschungen und Prellungen erlitten. Sein Gesicht ist blutig zerschrammt und geschwollen. "Sie hatten unglaubliches Glück", werden die Ärzte später sagen.

+++ SO KRIMINELL IST IHR STADTTEIL +++

Gewaltopfer leiden häufig unter einem Trauma, die einen erleben die grausigen Szenen wieder und wieder, ähnlich einer Platte, die in einer Rille festhängt. Marcel F. kann Busse nicht mehr ertragen. "Busfahrten sind eine Tortur für mich", offenbarte er drei Monate nach der Tat im Abendblatt. Erstickungsängste plagen ihn, Schweißausbrüche, Panikattacken. Am 23. August wird der 19-Jährige als Zeuge aussagen und seinen Peinigern in die Augen blicken. Nur einer, Salim El G., habe ihn bislang schriftlich um Entschuldigung gebeten, sagt der Nebenklagevertreter.

Seit fast sechs Monaten sitzen Phillip R. und Salim El G. in U-Haft. Kurz nach Veröffentlichung der Videoaufzeichnungen hatten sich die Schulabbrecher der Polizei gestellt. Dort waren die beiden schon bekannt: Phillip R., der seit seiner Kindheit mit seiner Mutter, einer Sozialpädagogin, zusammenlebt, war durch Schwarzfahren und ein Körperverletzungsdelikt (Weihnachten 2009) aufgefallen. Der arabischstämmige Salim El G. soll im Januar 2009 einen unbekannt gebliebenen Mann auf der Reeperbahn durch Tritte gegen den Kopf verletzt haben.

Trotz Anklageerhebung kam der Fall nicht vors Gericht. Für den SPD-Innenexperten Andreas Dressel dokumentiert dieses Versäumnis das Scheitern des Senatskonzepts "Handeln gegen Jugendgewalt", das bei jugendlichen Gewalttaten sofort "spürbare Sanktionen" vorsieht. Nun wird der Vorwurf im aktuellen Verfahren mitverhandelt. 18 Monate nach der Tat. Nach Jugendrecht könnten die Angeklagten zu zehn Jahren Haft verurteilt werden - Marcel F. hat bereits lebenslänglich. Der Prozess geht am 18. August weiter.