Eine Alkoholikerin soll einen Mann vor einen Zug gestoßen haben. Sie steht jetzt wegen versuchten Totschlags vor dem Landgericht.

Hamburg. Gleis 4 im Hauptbahnhof, 1. Februar 2010. Um 23.46 Uhr fährt die S 3 in den Bahnhof ein, die Passanten sehen und hören den tonnenschweren Zug schon. Plötzlich stürzt ein Mann ins Gleisbett - es ist der 44 Jahre alte Holger C. Doch der Mann hat einen Schutzengel und offenbar einen guten Instinkt: In letzter Sekunde rollt er sich geistesgegenwärtig in eine Nische zwischen Bahnsteigwand und Schienenstrang. Die S-Bahn schleift ihn zwar gut zehn Meter mit, aber Holger C. überlebt - wenn auch schwer verletzt.

Vor Gericht steht seit gestern Sylvia H. Die Frau mit den dunklen, halblangen Haaren verschränkt die Arme vor dem Körper, fast trotzig sieht das aus, jedenfalls ruft sie, gefragt, ob sie sich zu den Vorwürfen einlassen möchte, laut in den Gerichtssaal hinein: "Keine Aussage!" Die Staatsanwaltschaft wirft ihr vor, sie habe den Mann zunächst vor sich hergeschoben und dann mit einem wuchtigen Stoß ins Gleisbett geschubst. Doch zur Sache will Sylvia H. keine Angaben machen. Zumindest heute nicht. Sylvia H. ist seit Jahren obdachlos, alkoholabhängig und kriminell. Die gebürtige Münsteranerin lebt nachts im Bahnhof und tagsüber hält sie sich in den dortigen Geschäften auf.

Bei der polizeilichen Vernehmung kurz nach ihrer Festnahme litt sie unter starken Entzugserscheinungen, ihre Hände zitterten. Nun ist die 45 Jahre alte Frau vor dem Landgericht wegen versuchten Totschlags angeklagt. Allerdings geht die Staatsanwaltschaft in diesem Sicherungsverfahren davon aus, dass Sylvia H. ihr Opfer im Zustand der Schuldunfähigkeit ins Gleisbett stieß: Sie leide unter einer krankhaften seelischen Störung und einer weiteren seelischen Abartigkeit. Zudem wiesen Rechtsmediziner in ihrem Blut eine Alkoholkonzentration von 3,6 Promille und Spuren des Schlafmittels Diazepam nach. Aktuell ist die Frau in der Psychiatrie untergebracht. Sollte sie verurteilt werden, droht ihr eine zeitlich unbefristete Unterbringung in der Entziehungsanstalt.

Dabei schlugen frühere, von Amts wegen angeordnete Entzugsversuche fehl. Psychiater diagnostizierten bei Sylvia H. zudem eine Intelligenzstörung leichten Grades, die mithin auch Ursache für das signifikant asoziale Verhalten der Frau sein soll. "Therapeutisch unerreichbar", notierten die Ärzte. 15 Straftaten gehen auf ihr Konto, überwiegend handelt es sich dabei um Diebstähle.

Ob seine Mandantin den 44 Jahre alten Mann wirklich ins Gleisbett gestoßen hat, steht für den Verteidiger der Angeklagten längst nicht fest. Möglicherweise taumelte der angeblich ebenfalls betrunkene Holger C. knapp an der Bahnsteigkante entlang, vielleicht habe seine Mandantin ihn geschubst, sie habe ihn aber nicht bewusst ins Gleisbett gestoßen. Eine Videoaufzeichnung, die das Gericht gestern vorspielte, zeigt Gleis 4, kurz bevor Holger C. zu Fall kommt. Die ruckeligen Bilder lassen auf den ersten Blick jedoch nicht zweifelsfrei erkennen, ob Sylvia S. ihr Opfer wirklich bewusst vor den Zug gestoßen hat.

Zunächst hatte die Polizei ermittelt, dass der Attacke ein Streit mit Holger C. um eine Flasche Jägermeister vorangegangen sein soll. Die Staatsanwaltschaft geht inzwischen davon aus, dass Sylvia H. den Mann völlig grundlos ins Gleisbett gestoßen hat. Fehlte ihr vor dem Haftrichter noch jede Erinnerung an die Tat, so hatte sie zuvor gegenüber der Polizei angegeben, sie habe den Mann "aus Wut geschubst, weil ich nicht mitfahren konnte". Sie habe ihn jedoch nicht töten wollen und habe nicht registriert, wie die S-Bahn in den Bahnhof eingefahren sei. "Ich habe hinten keine Augen", hatte sie den Beamten damals erzählt. Sie sei stark betrunken gewesen, habe zuvor Bier und Jägermeister getrunken.

Holger C, das Opfer der mutmaßlichen Täterin, lag mit Rippenbrüchen und einer Lungenverletzung mehrere Tage auf der Intensivstation. An die Attacke konnte er sich nur bruchstückhaft erinnern. Der 44-Jährige soll am Mittwoch vernommen werden.