Die Mutter und Großmutter der Hamburger Schriftstellerin waren Jüdinnen, die an der Henriettenstraße in Eimsbüttel gelebt hatten.

Hamburg. Als Kind hatte sie eine Schreibstörung, Legasthenie würde man heute vermutlich sagen. Viola Roggenkamp, Jahrgang 1948, hat sie selbst kuriert, indem sie nachts unter der Bettdecke mit einer Taschenlampe Thomas Manns "Buddenbrooks" gelesen hat, in Frakturschrift, Wort für Wort. Später hat sie studiert, Musik ("da hab ich mich hinterm Notenständer verkrochen"), Philosophie und Psychologie, und dann ihren Lebensunterhalt mit Schreiben verdient, als Journalistin bei der "Zeit" mit Reportagen und Porträts, und heute als Schriftstellerin.

Sie glaubt fest daran, dass es tiefere Ursachen hatte, mit dem geschriebenen Wort auf Kriegsfuß zu stehen. Denn ihre Kindheit war eine besondere, weil ihre Familie eine besondere war. Mutter und Großmutter waren Jüdinnen, die an der Henriettenstraße in Eimsbüttel gelebt hatten. Den Krieg und die Deportationen hatten sie überlebt, weil der Vater, nicht jüdisch, sich zu einer Unzeit in ihre Mutter verliebt hatte und wider alle Gefahren und Versuchungen, einen einfacheren Weg zu gehen, zu ihnen stand, als sie in Reichweite der NS-Vernichtungsmaschinerie gerieten. Eine Geschichte, die man nicht erfinden könnte.

Die Mutter wurde 1943 denunziert, den arischen Mann zur Rassenschande verführt zu haben. Beide kamen für einige Monate ins Konzentrationslager Fuhlsbüttel, er wurde verurteilt. Beide wurden in Handschellen abgeführt, genau wie die Großmutter, die vor der Verhaftung Radio gehört hatte, was Juden längst verboten war. Sie kam damals mit "Erziehungshaft" in Fuhlsbüttel davon.

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Der Mutter hängte die Denunziantin sicherheitshalber noch eine erfundene Scheckfälschung an. Was ihr letztlich das Leben rettete; denn nun war sie ein Kriminalfall, und der musste mit deutscher Gründlichkeit erst aufgeklärt werden - was sie zunächst vor einer übereilten Deportation bewahrte.

Dann kam der Feuersturm, die massiven Bombenangriffe der Engländer auf Hamburg, im Juli 1943. Die beiden Frauen überlebten, und Hans Roggenkamp, in Polen, reagierte auf die Hilferufe aus Hamburg. Er fälschte unter großen Gefahren Papiere und brachte die beiden, deren jüdische Herkunft die Behörden nicht mehr rekonstruieren konnten, nach Polen und 1944, noch vor Kriegsende, zurück nach Niedersachsen, in die Nähe von Bergen-Belsen auf einen Bauernhof, wo sie überlebten. Das Konzentrationslager nebenan war da noch nicht befreit.

Doch auch mit der Befreiung durch die Alliierten war die Geschichte lange nicht vorbei. In der Familie war es ein Tabu, "draußen", also vor anderen Leuten, über das gerade erst Vergangene zu sprechen. "Wir lebten in einem paradiesischen Käfig", sagt Viola Roggenkamp heute, "bis wir 15, 16, 17 waren." Die verbitterte Denunziantin hatte ihnen direkt nach dem Krieg in Harvestehude Wohnung gewähren müssen und musste dann selbst ausziehen. Sie tauchte mehrfach im Garten des Hauses auf und nannte die Mutter "Judenschwein", drohte gar mit Entführung der beiden Töchter. Also verschwieg man die eigene Geschichte, man wollte nicht auffallen, sich nirgendwo einmischen. "Vielleicht war genau dieses Verschweigen ein Impuls für mich, Journalistin zu werden, also Geschichten öffentlich zu machen - es war nicht bewusst geplant, aber ich wollte gern etwas erzählen und mit Leuten zusammenkommen, die etwas zu erzählen haben."

Unterdrückte Geschichten finden immer ihren Weg an die Öffentlichkeit, früher oder später. Und sie sind keineswegs wirkungslos, auch nicht tief drunten am Rand der Verdrängung. Mit 51 Jahren hörte die freie Autorin bei der "Zeit" auf; sie hatte als Journalistin "vieles erlebt und vieles angesammelt, was man so nicht einfach veröffentlichen kann, als Stoff trägt man das aber in sich".

In Indien hat sie gelebt, mehrere Jahre immer für einige Monate, in Israel ein ganzes Jahr, als ihr der deutsche Wiedervereinigungsrummel zu viel wurde.

Aber nun, nach der Jahrtausendwende, meldete sich die Familiengeschichte mit Macht und wollte aufgeschrieben werden. Viola Roggenkamp fühlte sich von ihr noch immer besetzt und unfrei, sie wollte sich endlich freischreiben, das Verschwiegene nach draußen tragen, sich das eigene Jüdischsein wieder aneignen. "Familienleben" hieß das Buch, das 2004 erschien, es wurde ein Bestseller. Auch die Mutter, die damals noch lebte, schaffte es, stolz auf die Tochter und deren Tabubruch zu sein. Heute sagt die Autorin selbstbewusst: "Ich stehe in der Tradition der jüdischen Kultur." Sie schaut sich um und entdeckt immer wieder Merkwürdigkeiten im jüdisch-deutschen Verhältnis. Wenn sie darüber spricht, knüpft sie oft lange Gedankenketten, mit vielen Einschüben, die präzisieren, was sie meint - Missverständnisse sollen auf jeden Fall ausgeschlossen sein.

Merkwürdig sei zum Beispiel, dass nach dem Krieg niemand ihre Eltern nach deren Geschichte fragte - nicht mal gute Freunde. "Es gab hier einfach nicht den Wunsch, davon wissen zu wollen." Dennoch behalte jeder Mensch einen Nachhall aus der Geschichte in sich, unabhängig vor welchem historischen Hintergrund, "das gilt für beide Seiten, nicht nur für die jüdische".

In ihrem zweiten Roman, "Tochter und Vater", der im Frühsommer erschienen ist, untersucht sie die Handlungsmotive ihres Vaters und was ihn dazu trieb, zum stillen Helden zu werden, der unter Gefahr des eigenen Lebens die beiden jüdischen Frauen gerettet hat. Viola Roggenkamp zeigt aber noch viel mehr: Was nämlich solche verdrängten Geschichten in den Nachgeborenen noch anrichten können. Und dass auch ihr Vater, der Held der kleinen Familie, manchmal sehr dicht an das Böse heranrücken musste, um seine Rettungstat vollenden zu können.

Sie schreibt über das Jüdische und über das Deutsche, weil sie heute findet, dass die Geschichte ihrer Eltern und ihr positiver Ausgang zum deutschen Geschichtenkanon gehört - "es ist eine Hamburger Geschichte, mein Vater und meine Mutter kommen beide aus Hamburg. Es ist gut zu wissen, dass es auch solche Geschichten aus jener Zeit gibt".

Viola Roggenkamp: Tochter und Vater S. Fischer, 268 Seiten, 18,95 Euro