Deutschlands berühmteste Zwillinge singen als Überraschungsstars bei der Saison-Premiere. Die beiden 74-Jährigen blicken zurück.

St. Georg. Lange suchen muss man sie nicht. Es gibt sie schließlich gleich zweimal. Und auch Robert Kreis stürmt sofort auf die Kessler-Zwillinge zu, als er sie zufällig in der Lobby des Hotel Atlantic entdeckt. "Ihr Lieben", läutet der niederländische Kabarettist das Geplänkel unter Kollegen ein.

Er ist in der Stadt, um ein baldiges Engagement im Winterhuder Fährhaus zu besprechen, Alice und Ellen Kessler sind am Morgen noch "undercover" in Hamburg, denn gestern Abend standen sie als Überraschungsgäste des neuen Programms im Hansa-Theater auf der Bühne (präsentiert vom Hamburger Abendblatt, Karten unter 040/30 30 98 98). Drei Nummern zeigten die "Fräuleinwunder" der Nachkriegszeit. Im Premierenpublikum saßen Udo Lindenberg, Jan Fedder, Albert Darboven und John Neumeier.

"Früher haben wir getanzt und gesungen, heute singen wir und tanzen ein bisschen dazu", sagt Ellen Kessler und lacht. Genau wie ihre Schwester. Die beiden 74-Jährigen müssen ihre öffentliche Rolle nicht spielen, sie sind schlicht hineingeboren worden. Deshalb scheint es auch nicht so, als würde Ellen Alice ins Wort fallen oder umgekehrt, vielmehr ergänzt die eine angefangene Sätze der anderen.

Sie müssen sich nicht abstimmen, kennen die andere ebenso gut wie sich selbst, machen alles gemeinsam. Fast alles. Denn gemeinsam trainieren, das ginge nicht. "Wir haben nur eine Sprossenwand in unserem Haus", erklärt Alice Kessler, "deshalb wechseln wir uns tageweise ab." Sie trainieren ausschließlich daheim, nicht in einem Studio mit Trainer. "Einen Spagat könnten wir problemlos jetzt machen, wir haben das Glück und sind sehr weich", so Ellen Kessler. Und gut geschult.

Im frühesten Kindesalter fingen die Mädchen aus Sachsen auf Wunsch ihres Vaters an, Ballettunterricht zu nehmen, "die Basis für alles". Im Ballettsaal lernten sie Haltung, Disziplin und Körperbewusstsein und wurden entdeckt: Schon fünf Jahre später gehören sie zum Ensemble des Kinderballetts der Leipziger Oper, 1950 schaffen Alice und Ellen Kessler die Aufnahmeprüfung an der angegliederten Operntanzschule. 1952 nutzt die Familie ein Besuchervisum zur Flucht aus der damaligen DDR in die Bundesrepublik, wo die Schwestern ihre Karriere in Düsseldorf im Theater Palladium beginnen. Dort wiederum sieht sie der Direktor des weltberühmten Revuetheaters Lido und verpflichtet die beiden langbeinigen, blonden Schönheiten für sein Varieté in Paris, das während des Krieges noch von Deutschen besetzt war.

Nach einem schweren Anfangsjahr tanzen die Schwestern an der Spitze der "Bluebell-Girls". "Das war die schönste Zeit in unserem Leben", erinnert sich Ellen Kessler, "obwohl wir viel angefeindet wurden zu Beginn." Denn als sie 1954 ankamen, "waren wir die ersten Deutschen nach dem Krieg dort".

Die Garderobiere half ihnen nicht mit den Kostümen, die Kolleginnen schnitten sie. "Ausländerhass haben wir wirklich miterlebt. Aber es wurde besser, und schließlich haben wir uns sehr wohlgefühlt." Auch, wenn das Geld am Monatsende "nur noch für Pommes, nicht mehr für Steak reichte", wie sich die beiden lachend erinnern. Sie hätten keine Verantwortung gehabt, niemand hätte sie einschätzen können. "Es wurde härter, je bekannter wir wurden, die Erwartungshaltung des Publikums hat sich natürlich geändert", so Ellen Kessler. Und diese hieß es zu befriedigen. Sie gehörten zu den ersten Frauen, die im italienischen Fernsehen "Bein zeigten" (verpackt in blickdichte Strumpfhosen) und Reklame für Seidenstrümpfe machten. 1959 traten sie beim Grand Prix für Deutschland an (Platz 8). Es folgten Filmrollen, Auftritte in Fernsehshows, Plattenaufnahmen. Mit 40 ließen sie sich für den Playboy ablichten, die Ausgabe war binnen weniger Stunden vergriffen.

Heute ist ihr Leben weniger schnell, sie wohnen in München, wo sie sich ein Doppelhaus teilen, getrennt durch eine Glasschiebetür leben. Auch in Rom haben sie eine Wohnung. Auf eine Haushälterin verzichten die beiden Showstars, denn "wir sind ordentlich", betont Alice Kessler und Ellen ergänzt: "Wir haben keine Kinder und keine Männer, da müsste wohl mehr aufgeräumt werden." Beide lächeln. Gern hätten sie einen Hund, aber dafür seien sie noch zu viel unterwegs. Wie eben jetzt im Hansa-Theater. "Das Schöne ist, dass wir niemandem etwas beweisen müssen", so Ellen Kessler, "wir machen nur noch, was wir wollen", sagt Alice Kessler zum Schluss.